„Joseph, lieber Joseph mein“ ist heute eines der bekanntesten Weihnachtslieder. Die Melodie hat ihren Ursprung im weihnachtlichen Choral „Resonet in laudibus“, der sich in zahlreichen Handschriften des 14. Jahrhunderts findet. Mit einem deutschen Text erschien das Lied erst nach der Reformation, nämlich im „Geistlichen Gesangbüchlein“ des evangelischen Kantors, Chorleiters und Komponisten Johann Walters (1496–1570), ein Bundesgenosse und tatkräftiger Unterstützer Martin Luthers.
1864 hat Johannes Brahms diese Melodie für sein 1864 komponiertes „Geistliches Wiegenlied“ für Altstimme, Bratsche und Klavier Op. 91/2 verwendet. Hier ist es nicht die Gesangsstimme, in der die Melodie des Weihnachtsliedes erscheint, sondern es ist umgekehrt: Bratsche und Klavierstimme bilden mit der Melodie bzw. Motiven der Melodie den Rahmen, in dem sich die Gesangsstimme mit einem ganz anderen Text und einer ganz anderen Melodie bewegt. Der Text dieser „Gegenmelodie“ stammt von Lope de Vega (1562–1635) aus „Cantarcillo de la Virgen“, übersetzt von Emanuel Geibel (1815–1884):
Die ihr schwebet
Um diese Palmen
In Nacht und Wind,
Ihr heilgen Engel,
Stillet die Wipfel!
Es schlummert mein Kind.
Ihr Palmen von Bethlehem
Im Windesbrausen,
Wie mögt ihr heute
So zornig sausen!
O rauscht nicht also!
Schweiget, neiget
Euch leis und lind;
Stillet die Wipfel!
Es schlummert mein Kind.
Der Himmelsknabe
Duldet Beschwerde,
Ach, wie so müd er ward
Vom Leid der Erde.
Ach nun im Schlaf ihm
Leise gesänftigt
Die Qual zerrinnt,
Stillet die Wipfel!
Es schlummert mein Kind.
Grimmige Kälte
Sauset hernieder,
Womit nur deck ich
Des Kindleins Glieder!
O all ihr Engel,
Die ihr geflügelt
Wandelt im Wind,
Stillet die Wipfel!
Es schlummert mein Kind.
Brahms destilliert die bekannte Melodie auf instrumentale Weise und bildet so einen durch den Filter der instrumentalen Klangfarbe verfremdeten vokalen Boden für die Altstimme, die ab Takt 13 mit einer ganz anderen Melodie anhebt. Außerdem verwebt Brahms in der Folge auf kontrapunktische Weise motivische Elemente des Weihnachtsliedes mit der Melodie der Gesangsstimme. Die vollständige Melodie des Weihnachtsliedes aber erklingt nur als Brücke zwischen den Strophen in der Stimme der Bratsche.

Brahms hat das Geistliche Wiegenlied zu der Zeit geschrieben, als sein enger Freund Joseph Joachim (1831–1907) und seine Frau Amalie (1839–1899) ihr erstes Kind erwarteten, dem sie den Namen Johannes gegeben haben, womit sie dem Freunde eine Freude bereiten wollten. Joseph Joachim war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Geiger des 19. Jahrhunderts für den zum Beispiel die Violinkonzerte von Max Bruch (1838–1920) und Johannes Brahms geschrieben wurden und von denen Joachim die Solopartie maßgeblich beeinflusst hat. Joachim war selbst ein bekannter Komponist und Brahms hat Joachim, der seinen Werken den Weg in das Musikleben geebnet hat, oft um Rat gefragt, was die etwa 500 erhaltenen Briefe, die die beiden ausgetauscht haben unter Beweis stellen. Ihre Freundschaft wäre fast wegen der Scheidung von Joachim und seiner Frau Amalie, eine sehr bekannte Altistin, zerbrochen. Bei dieser Scheidung, aufgrund von Joachims maßloser Eifersucht, der seiner Frau eine Affäre mit dem Musikverleger Fritz Simrock (1837–1901) vorwarf, hat Brahms Partei für Amalie ergriffen, weswegen es zum Bruch zwischen den Freunden kam; erst recht, als Amalie im Lauf des Scheidungsprozesses einen vertraulichen an sie adressierten Brief von Brahms dem Gericht vorlegte, in dem er Joachims maßlose Eifersucht als unglückliche Charaktereigenschaft bezeichnete. 1887, nachdem Brahms und Joachim drei Jahre kein Wort miteinander gesprochen hatten, komponierte Brahms, als Zeichen der Versöhnung, das Doppelkonzert für Violine und Violoncello a-Moll Op. 102 und bat Joachim um Mitarbeit und Hilfe bei der Solopartie, womit die Freundschaft glücklich wiederhergestellt war.
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