Der ganze Globus ist dank GPS von einem Datennetz überzogen, das gefährliche Expeditionen und Abenteuer à la Robinson Crusoe schlechterdings unmöglich macht. Verschollen im Nirgendwo klingt wie ein Topos aus längst vergangener Zeit, selbst gesunkene U-Boote und vom Radar verschwundene Flugzeuge werden früher oder später aufgespürt. Die Welt scheint klein und überschaubar geworden.

Seit einigen Jahren durchzieht nun ein Trend das Land, der erkannt hat, dass die wahren Abenteuer nicht (nur) am anderen Ende der Welt, sondern vor der eigenen Haustüre zu finden sind: Urban Exploring (kurz Urbexing, im Deutschen weit profaner „Stadterkundung“) ist das Stichwort für den modernen Abenteurer. Vorwiegend junge Menschen erschließen sich so ihr alltägliches Lebensumfeld neu: Sie steigen in verlassene Hotels und Fabriken ein, erkunden Dachlandschaften und die Kanalisation. Wie bei den großen Pionieren vergangener Jahrhunderte ist natürlich auch hier das Ziel: Erster sein!  Die Motivation liegt demgemäß wohl irgendwo zwischen sportlichem Ehrgeiz und kulturhistorischem Forscherdrang, zwischen Architekturerkundung und Action-Kunst. Denn die fotografische Dokumentation und Verbreitung derselben über Socialmedia-Kanäle ist selbstredend fester Bestandteil solcher Aktionen.

„Lost Places“ (ein Pseudo-Anglizismus, der sinngemäß „verlassene Orte“ meint) sind aber auch jenseits des modernen Stadtdschungels Ziel und Sehnsuchtsort für Erlebnishungrige und Entdecker. „Da Hogn“, das Online-Magazin aus dem Bayerischen Wald, hat vor einiger Zeit via Facebook dazu aufgerufen, „spannende und verlassene Orte im schönsten Bezirk Bayerns“ zu entdecken. Unzählige Fotos wurden seither hochgeladen, rund 18.000 Personen gefällt das. Eine Vielzahl ähnlicher Seiten dokumentiert stillgelegte Industriebauten, Fabriken und Militäranlagen, leer stehende Hotels und Schwimmbäder, verfallende Bauernhöfe und aufgelassene Dörfer auf der ganzen Welt – kurzum „die versteckte Schönheit des Verfalls“.
Bildmotive, die die Rückeroberung der von Menschen bebauten und genutzten Orte durch die Natur zeigen, sind zentrales Thema des noch jungen Genres Ruinen-Fotografie. Eine ideologische Nähe zur Romantik des 19. Jahrhunderts wird deutlich: Auch in den Werken von Caspar David Friedrich & Co sind Fernweh, der Reiz des Unheimlichen und die Hinwendung zur Vergangenheit bildgebende Motive.

Während die einen ihre kleinen privaten Fluchten vor der lauten Welt an stille, unentdeckte Phantasy-Schauplätze mit der Online-Community teilen, stellen andere ihre „Forschungsarbeit“ offiziell in den Dienst des Denkmalschutzes. Für die Dokumentation verfallener, (nicht-)denkmalgeschützter Bauwerke wurde 2017 „rottenplaces – Magazin rund um verfallene Bauwerke, Denkmalschutz & Industriekultur“ mit dem Internetpreis des  Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz ausgezeichnet.

Der wahre Sinn und Nutzen dieser Form von Ortserkundungen liegt wohl irgendwo zwischen Denkmalpflege und Romantik 4.0 – sofern man sich an den Ehrenkodex der „Urbexer“ hält: Nur schauen, nicht anfassen! Und das nicht nur, weil die Unberührtheit des Ortes für andere Entdecker erhalten bleiben soll, sondern weil man sich beim Betreten verlassener Liegenschaften immer auch in einer Gefahren- und rechtlichen Grauzone befindet.

CLL