Im kalifornischen Santa Monica, am Pazifikstrand vor L.A., steht die Wiege des Shabby Chic-Trends, den Lifestyle-Magazine und Einrichtungsberater längst in alle Welt getragen haben. 1989 eröffnete die englische Stylistin Rachel Ashwell hier einen Laden, der mit Flohmarktstücken handelte. Inzwischen ist sie Teilhaberin mehrerer Labels und das Oxymoron Shabby Chic als Warenzeichen geschützt.
Shabby Chic (von engl. shabby = schäbig, heruntergekommen) meint einen Einrichtungsstil, bei dem Erbstücke, Flohmarktkäufe und Selbstgemachtes ungeniert gemischt werden. Sichtbare Gebrauchsspuren sind dabei kein Makel, sondern gehören genauso zum Konzept wie rostige Scharniere, schlieriges Glas und abblätternder Lack.
Die im Angebot von Online-Portalen und Möbelhäusern zahlreich zu findenden antik anmutenden Möbel und Gegenstände stammen – aufgrund der großen Nachfrage – aber längst nicht mehr vom Flohmarkt oder Omas Speicher, sondern aus Fabriken und Industriehallen, wo Oberflächen und Bezüge einem künstlichen Alterungsprozess unterzogen werden. Dabei soll es sich bei Shabby Chic, wie die einschlägige Literatur beteuert, nicht um wertlosen Plunder handeln, sondern um Möbel, die ihre eigene Geschichte erzählen. Ach ja?!

Was in den 1980er Jahren als Gegenbewegung zur kostspieligen Innenausstattung der oberen Mittelklasse-Landhäuser in England entstand, hat über das hippe Santa Monica als massentauglicher Trend zurück nach Europa gefunden. Shabby ist in! Ob als Stilmöbel, patinierter Schmuck oder Jeans im used look – Gebrauchsspuren suggerieren uns Einzigartigkeit, Charakter und Geschichte. Mit Sorgfalt ausgesuchte Accessoires werden scheinbar beliebig zusammengestellt. Was zählt ist Gemütlichkeit statt Schlichtheit, Üppigkeit statt Purismus. Alt darf es aussehen, aber praktisch und bequem muss es sein – und Geld spielt keine Rolle, wo Geschmack und Individualität unter Beweis gestellt werden wollen.
Das samtige Sofa abgewetzt wie von Generationen gemütlicher Kaffeekränzchen, aber mit modernster Federkerntechnik; die Häkeldeckchen wie handgemacht, aber ohne Stockflecken; die Rüschenbluse wie aus Omas Wäscheschrank, aber ohne Mottenkugelduft; die Boots wie nach tagelangem Viehtrieb, aber zu teuer für Regenwetter – Shabby Chic ist und bleibt ein Widerspruch in sich.

Leider stimmt auch nicht, was uns als Mehrwert dieses Trends verkauft wird: Die Wertschätzung von historisch Überliefertem wird nicht größer, weil wir uns mit stilvollen Imitaten umgeben. Vielmehr verliert sich der Blick für die wahren Schätze immer mehr, je kunstvoller die Attrappen werden. Wie sonst ist zu erklären, dass im Zwieseler Land ein Erlebnispark mit künstlichem Mittelalterflair entstehen soll, während ringsum historische Denkmäler verfallen?

Christine Lorenz-Lossin