Manchmal frag ich mich, wie viele besondere und faszinierende Bäume buchstäblich vor der eigenen Nase wachsen und doch übersehen werden. Ich fasse mich folglich an selbiger und berichte hier von einer gewaltigen Eiche, an der ich jahrelang und unzählige Male auf der Autobahn A3 vorbeigerast bin, ohne die Alteiche wirklich zu bemerken und vor allem, ohne je von der Autobahn abzufahren und den Baum zu besuchen. Obwohl ich mir immer dachte: „Eigentlich könnte ich doch mal… Na ja, vielleicht nächstes Mal, wenn mehr Zeit ist“

An einem Sommerabend habe ich mich dann durchgerungen und die noch bevorstehende längere Autofahrt an der Ausfahrt Metten unterbrochen. Die Eiche ist von dort aus schnell erreicht: Ein kurzes Stück der Staatsstraße 2125 Richtung Neuhausen folgen und schon nach wenigen hundert Metern links auf den Schwarzachgraben einbiegen, einen Feldweg, der direkt zur Eiche führt. Ich war überwältigt und hatte nicht damit gerechnet, dass die Stieleiche so gewaltig sein würde. Mächtig ragte sie in der beginnenden Dämmerung auf, unfassbar nah an der Autobahntrasse, ein sich tief gabelnder Stamm von dichtem Unterholz umgeben. Vielleicht lag es an der Mischung aus nachlassendem Tageslicht und monoton vorbeirauschenden Autobahnlärm, dass sich schnell eine gewisse Traurigkeit bei mir einstellte: eine imposante Eiche, wie sie unseren Vorfahren sicher heilig gewesen wäre, fristet hier buchstäblich am Rande unserer schnelllebigen Gesellschaft ihr Dasein.

Aber ist es wirklich so? Das Überleben dieser Eiche so nahe an einer der wichtigsten europäischen Verkehrsschlagadern grenzt für mich an ein Wunder.  Wahrscheinlich sind im 20. Jahrhundert mehr Eichen der Straßenplanung zum Opfer gefallen als dem Blitz. Bereits in der NS-Zeit begannen die raumgreifenden Erdarbeiten für die „Nibelungen-Autobahn“, dem heutigen A3-Abschnitt zwischen Deggendorf und Passau, ohne dass der Eiche etwas passiert ist.  Ab 1968 wurde die Autobahn mit geänderter Trassenführung fertiggestellt und die Eiche blieb abermals stehen.

Ein kleines Wunder, das Mut macht. Vielleicht steht die Eiche ja insgeheim doch unter dem Schutz der alten Götter. Oder bringt ihr ein völlig verrostetes Hufeisen, nahe der Stammbasis, seit Jahrzehnten Glück? Ich weiß es nicht, aber entscheide, das Hufeisen auf jeden Fall bei der Eiche zu lassen. In Zeiten der globalen Erwärmung und von Massenauftreten des Eichenprozessionsspinners kann es die alte Stieleiche noch gut gebrauchen und wird vielleicht dann noch stehen, wenn asphaltierte Autobahnen nur noch aus Geschichtsbüchern bekannt sind.

Jürgen Schuller
Foto: Jürgen Schuller