Als „Gstanzl“ bezeichnet man hierzulande ein vierzeiliges, spontan gereimtes, pointiertes Spottlied im Dreivierteltakt. Diese Volksliedgattung erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Gstanzln erklingen traditionsgemäß bei Hochzeiten, spontan im Wirtshaus oder bei geselligen Anlässen und seit einigen Jahrzehnten auch bei eigens organisierten „Gstanzlsängertreffen“ in Bierzelten und Veranstaltungshallen. Gstanzl-Melodie-Varianten gibt es ähnlich viele wie Gstanzlsänger.

Populär geworden ist das Gstanzlsingen durch den Roider Jackl (1906–1975). Der im niederbayerischen Weihmichl geborene Bauernsohn und spätere Forstbedienstete ließ mit seinen Gstanzln 1931 beim Ersten Niederbayerischen Preissingen in Landshut aufhorchen. In den Nachkriegsjahrzehnten professionalisierte er seine Volksgesangskunst. Regelmäßig war er Gast in Sendungen des Bayerischen Rundfunks und Fernsehens. Weil Roider als Erster landes-, bundes- und weltpolitische Ereignisse aufs Korn nahm, stilisierten ihn die Medien zur „kritischen bayerischen Institution“. Er wurde zum Vorbild für viele Sänger. Dennoch blieben seine Gstanzl-Kunst und sein Bekanntheitsgrad bisher unerreicht.

Aber wann, wo und wie ist die Volksliedgattung des Gstanzls überhaupt entstanden? Wer war der erste Gstanzlsänger? Solche und ähnliche Fragen werden oft gestellt, so als ob es über jedes kulturelle Phänomen verlässliche Aufzeichnungen gäbe. Fehlanzeige. Man weiß auch nicht, welcher Mensch das erste Feuer entfacht oder das erste Wildschwein erlegt hat. Wie sollte man auch? Exakte Quellen zur Kulturgeschichte fließen spärlich. Insbesondere die so genannte Volkskultur interessierte lange Zeit niemanden. Ganz im Gegensatz zur Herrschaftsgeschichte, die stets daran erinnern sollte, welche großen Herrscher wann wo welche Kriege führen ließen oder welcher Fürstensohn welche Königstochter ehelichen musste.

Was man über das Gstanzl weiß: Es taucht um 1700 im deutschen Sprachgebiet auf, und zwar in Verbindung mit dem Landlertanz. Gstanzln gehorchten also dem Dreiertakt auf dem Tanzboden. Erste Erwähnungen finden sich in obrigkeitlichen Verboten, aber auch nur weil man glaubte, die vermeintlich fehlende Moral des einfachen Volkes zügeln zu müssen. Hier ist u. a. die Rede von „Schnitterhüpfln“ und „Saugsangln“. So wendet sich 1775 auch der Salzburger Erzbischof Hieronymus Graf von Colloredo in einem Generalmandat höchstpersönlich gegen das Absingen unkeuscher Gstanzln.

Die Bezeichnung Gstanzl geht zurück auf das italienische „Stanza“ – eine Strophenform bestehend aus Versen mit einem Reimschema, die seit der Renaissance in Gebrauch war. Überhaupt dürften die Ursprünge des Gstanzls in der romanischen Tradition liegen, denn vierzeilige Tanzlieder wie die norditalienische „Villotta“ oder die spanische „Copla“ sind nachweislich älter als die deutschen.

Mit dem erwachenden Volksliedinteresse im 19. Jahrhundert geriet auch das Gstanzl als Kleinform des Volkslieds zunehmend in den Blick. Zahlreich sind die Vierzeilersammlungen mit Gstanzln, Schnaderhüpfln und Gsangln in den bayerischen Volksmusikarchiven. Aber warum sollte man solche nachsingen? Entgegen der traditionellen Volksliedpflege, die sich um die Wiederbelebung zumeist alten Liedguts bemüht, lebt das Gstanzl von seiner Aktualität. So war es bei Roider Jackl und der Biermösl-Blosn. So halten es die zahlreichen Gstanzlsänger bei ihren Auftritten landauf landab und der Daller Wastl beim Schleich-Fernsehen.

MS