„Erinnerungskultur“ ist ein Leitbegriff der modernen Kulturgeschichtsforschung aus den 1990er-Jahren. Man versteht darunter die öffentliche Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse. Diese können politischer, ästhetischer oder geistig-ideeller Natur sein. Auch Feste, Bräuche, Gedenktage, Feiertage etc. zählen dazu. All dies wird meist übereinstimmend getragen von sozialen Gruppen, Ethnien oder Nationen.

Zeitlich versetzt, wie so oft, ist der Begriff der „Erinnerungskultur“ mittlerweile auch in Politik und Gesellschaft angekommen. Gerade in jüngerer Zeit ist viel davon die Rede, aber stets und besonders im Hinblick auf dramatische historische Ereignisse und Jahrtage wie etwa dem Ende des Zweiten Weltkriegs oder der Befreiung des Lagers Auschwitz. Großes Augenmerk wird auf die Erinnerung an den Holocaust und an die NS-Krankenmorde gelegt. Zahlreiche Erinnerungs- und Gedenkstätten sind deshalb entstanden und geplant.

In diesem Zusammenhang ist auch ein grundlegender Perspektivenwechsel in der jüngeren Geschichte zu erkennen: Nicht mehr die sogenannten Helden stehen wie ehedem im Zentrum der Erinnerung, sondern die Opfer. Solche, ob erfasst oder unbekannt, gab es weitaus mehr als „Helden“. Somit stellen Erinnerungsmale für die Opfer Mahnmale im Sinne eines „Nie wieder“ dar. Darüber besteht breiter gesellschaftlicher Konsens, selbst wenn eben dieser immer wieder Andersdenkende auf den Plan ruft. Fakt bleibt: Vielen Menschen geschah Unrecht. Geschichte lässt sich weder rückgängig machen noch verbiegen.

Doch der breit angelegte Begriff der Erinnerungskultur wird aktuell auf diese Gräueltaten der deutschen Zeitgeschichte verengt. Diese gilt es freilich nicht zu verdrängen, sondern gewissenhaft und mit Anstand aufzuarbeiten – für die Geschichtsbücher, in Form von Gedenkstätten, an Jahrtagen mit Gedenkfeiern, in Ansprachen und durch symbolische Handlungen. Das nennt man Vergangenheitsbewältigung. Sie ist unerlässlich für die letzten Mitglieder der Erlebnisgeneration ebenso wie für die nachfolgende Generation, denen die Zeitzeugen jene Geschehnisse überlieferten.

Für Jugendliche und Kinder allerdings bilden Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg allenfalls Ereignisse aus einer fernen Vergangenheit, die nicht zu ihrer Vergangenheit zählt. Sie ist nicht Teil der kollektiven Erinnerung ihrer Generation, welche die Entscheidungen und Taten ihrer Ururgroßeltern weder zu verantworten noch zu rechtfertigen hat. Für Kindeskinder soll es Aufklärung geben, ja und unbedingt, aber keine „Erbschuld“. Zu hoffen wäre, dass sie den Begriff „Erinnerungskultur“ dereinst auch wieder mit positiven Erinnerungen verknüpfen können. Ihn aus der eigenen Erlebnisperspektive heraus zu interpretieren, bleibt sowieso das Vorrecht ihrer Generation.

Maximilian Seefelder
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