Von München nach Gotteszell ist es weit; sehr weit. Und so passiert es schnell, dass man die Menschen dort vergisst. Manchmal ist das heute noch so.

Als die Eisenbahn nach Bayern gekommen ist, hat man als allererstes an die großen Städte gedacht: Nürnberg, Regensburg, München und Augsburg; erst ganz spät an Niederbayern — und noch viel später an Gotteszell. Die erste Strecke, die in den Bayerischen Wald hineinführt, gibt es seit 1877. Das ist die Strecke von Plattling nach Bayerisch Eisenstein. Etwas länger hat es mit der Verbindung von Gotteszell nach Viechtach gedauert. Sie gibt es seit 1890.

Aber fast wäre es dazu gar nicht gekommen! Mitte des 19. Jahrhunderts waren die bayerischen Kassen klamm und viel lieber hätte der König mehr Geld für Soldaten ausgegeben, als es in Schienen und Lokomotiven zu stecken.

Doch die Niederbayern wollten nicht länger abgehängt sein. Schnell gründeten sie mit der Erlaubnis und der Unterstützung des Königs eine Aktiengesellschaft. Mit dabei waren Geschäftsleute, Fabrikanten und Banken. Als erstes ist die Strecke von München nach Landshut fertig geworden. Das war im Jahr 1858. Danach waren Straubing und Passau an der Reihe. Jetzt murrten aber die Waldler. Alle fuhren mit dem Zug, bloß sie noch mit dem Ochsenwagen.

Eine Strecke durch den Bayerischen Wald bis nach Böhmen? „Viel zu teuer! Viel zu kompliziert! Und überhaupt: Des brauchts ned!“, so die Münchner Beamten. Doch die Waldler haben sich zusammengerauft und sind mit einem Plan in der Tasche nach München gefahren. In den Zeitungen konnte man am nächsten Tag lesen:

„[Dieser Plan] überrascht durch eine Ausarbeitung aller Details in einem Maße, dass man sagen muss: von den Herren im hinteren Wald können die Herren in München lernen, wie man so etwas macht.“

In einer anderen Zeitung heißt es, die Waldler hätten einfach die „lautesten Stimmen“ gehabt. Wie dem auch sei, ihr Wunsch ging in Erfüllung! Im Jahr 1873 ging es endlich los!

Fast wäre das Unternehmen doch noch gescheitert. Schuld war nicht der Wald, sondern eine der größten Wirtschaftskrisen des Jahrhunderts: die Gründerkrise. Der Sieg über Frankreich und die Gründung des Deutschen Reichs 1871 hatten den Markt und Spekulanten derart in Wallung versetzt, dass einige Jahre später nichts anderes als eine Explosion übrigblieb. Auch die Aktiengesellschaft, die den Bau der Waldbahn von Plattling nach Bayerisch Eisenstein finanzierte, war derart in Bedrängnis, dass nichts anderes übrigblieb, als sie zu verstaatlichen.

Die Strecke von Gotteszell nach Viechtach, die einige Jahre später in Angriff genommen wurde, führt durch eine der schönsten Flecken Erde, die es in Niederbayern gibt. Dieses Jahr im November feiert dieser Teil der Waldbahn seinen 130. Geburtstag.

Heute freuen sich allerdings nicht mehr die Unternehmer über diese Strecke, denn der Güterverkehr ist längst eingestellt, sondern die Wanderer, Fahrradfahrer, Pendler, Senioren und Kinobesucher. Kinobesucher? Ja, richtig: Für Besucher des Viechtacher Kinos ist die Fahrt mit der Waldbahn kostenlos. Noch — denn ginge es nach dem Willen der Münchner Ministerin, dann wäre im September 2021 Schluss mit der Waldbahn. Auf diese Ankündigung im Sommer 2020 prasselte ein Gewitter erboster Aufschreie nieder. Mittlerweile hat die Ministerin zurückgerudert.

Das grundsätzliche Problem aber bleibt: Zu oft werden die Menschen vergessen, die von München weit, weit weg sind. Das war schon vor der Eisenbahn so und auch heute ist es noch so.

Christoph Goldstein
Foto: Jochen Maier