„Am Mittwoch, den 15. März 1933 kurz nach 6 Uhr früh hat die hier obere Bachstraße No. 11 wohnhafte Rebekka Selz fernmündlich mitgeteilt, dass soeben von 5 – 6 Männern, die mit Gewehren bewaffnet und schwarzen Mänteln bekleidet waren, ihr Schwager Otto Selz mit Gewalt und nur mit dem Schlafanzug bekleidet aus dem Hause geschleppt, in das vor dem Hause bereitstehende Auto gebracht und in Richtung zum Bahnhof fortgefahren wurde.“ So begann der Bericht, den der Straubinger Polizeikommissar Michael Dengler über die Entführung des jüdischen Vieh- und Güterhändlers Otto Selz erstellte. Den Aktentitel beschriftete er mit „Mordsache Selz“. Denn um 9.30 Uhr desselben Tages fand ein Landwirt am Dreifaltigkeitsberg bei Weng die Leiche von Selz – er war schwer misshandelt und dann erschossen worden.

Otto Selz, geboren am 21. September 1885 im unterfränkischen Thüngen, war 1909 nach Straubing gekommen. Er hatte hier zunächst Wagenschmiere und Öle verkauft, dann als „Feldartillerist“ im Ersten Weltkrieg gedient und schließlich mit Vieh und Pferden, später auch mit Grundstücken und Immobilien gehandelt sowie Geldgeschäfte getätigt. 1919 hatte er in Straubing Sophie Springer geheiratet, 1921 wurde Sohn Fritz und 1924 Tochter Gertrud geboren.

Die Suche nach den Mördern von Selz wurde bald eingestellt. Die Bayerische Politische Polizei in München behauptete, „dass Selz einer Bauernrache zum Opfer gefallen sei und an seiner Ermordung … selbst die Schuld“ trage. Zeugen, die das Auto und die Männer – sie sollen Hakenkreuzbinden getragen haben – gesehen hatten, wurden eingeschüchtert. Im Mordfall Selz war Schweigen angesagt. Nach Kriegsende jedoch wurden die Ermittlungen fast unverzüglich wiederaufgenommen. Dem Landshuter Polizeibeamten Johann Venus, der am 15. März 1933 als erster zum Tatort geeilt war, hatte der ungeklärte Mordfall keine Ruhe gelassen; er hatte sogar einige der Unterlagen bei sich zu Hause versteckt und übergab sie nun der amerikanischen Besatzungsmacht. Auch Albert Selz, Neffe von Otto Selz, der noch am Mordabend Deutschland verlassen und in Frankreich überlebt hatte, bat um Aufklärung.

Nachruf des Kindermädchens der Familie Selz auf ihren Arbeitgeber im Straubinger Tagblatt vom 16. März 1933

Die neuen Ermittlungen brachten zwar keinen Täter vor Gericht, aber sie bestätigten immerhin, was die Freunde und Verwandten von Otto Selz von Anfang an vermutet hatten: eine Beteiligung von Julius Streicher, NSDAP-Gauleiter von Franken und Herausgeber der nationalsozialistischen Propagandazeitung „Der Stürmer“, die seit ihrer Erstausgabe im Jahr 1923 eine antisemitische Hetze betrieben hatte. Hier waren im Oktober und November 1932 zwei Artikel mit dem Titel „Jud Selz der Bauernpeiniger aus Straubing“ und „Jud Selz der Bauernwürger aus Straubing“ erschienen, die Selz und weitere Straubinger Juden als Betrüger und Wucherer angriffen mit dem Tenor: „In einem Hitlerdeutschland hätte ihn schon längst sein Schicksal ereilt.“ Selz stellte erfolgreich Strafanzeige; der „Stürmer“ musste eine Richtigstellung veröffentlichen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Bayern ließ den verurteilten Streicher wohl fast unverzüglich zur Rache an Selz schreiten. Die Oberstaatsanwaltschaft beim Landgericht Landshut hielt am 25. August 1961 abschließend zum Mordfall Selz fest: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß es sich um eine von hohen Funktionären der NSDAP eingeleitete und durchgeführte Aktion handelte und daß Selz getötet wurde, weil er Jude war und sich bei Streichers ‚Stürmer’ verhasst gemacht hatte. … Wer das Kommando, das die Erschießung durchgeführt hat, eingesetzt hat und welche Personen ihm angehört haben, war nicht mehr festzustellen.“ Julius Streicher hatte seine Strafe übrigens bereits erhalten: In den Nürnberger Prozessen wurde er wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ zum Tode durch den Strang verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet.

Nicht nur Otto Selz, sondern auch seine Ehefrau Sophie, seine Schwägerin Recha Selz und sein Schwager Heinrich Springer wurden ermordet; Pläne zu einer Emigration scheiterten offenbar am langwierigen Verfahren der Geschäftsauflösung. So wurden die beiden Frauen und Heinrich Springer Anfang April 1942 nach Piaski in Polen deportiert. Wann sie im Ghetto Piaski mit seinen unmenschlichen Lebensbedingungen oder in den Vernichtungslagern Belzec, Trawniki, Majdanek oder Sobibor, wohin viele Insassen von Piaski aus verlegt worden waren, umgekommen sind, weiß man nicht. Die beiden Kinder von Otto und Sophie, Fritz und Gertrud, konnten zwar in die USA emigrieren, ihr weiterer Lebensweg war aber nach Auskunft von Zeitzeugen stets von dem grausamen Geschehen im März 1933 überschattet.
An Otto, Sophie und Recha Selz sowie Heinrich Springer erinnern seit August 2008 in Straubing, Obere Bachstraße 14, Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig.

Das Schicksal von Otto Selz ist ausführlich beschrieben im Beitrag von Dorit-Maria Krenn, Stolpersteine in Straubing, im Jahresbericht des Historischen Vereins von Straubing und Umgebung 2009 (111), Straubing 2010, S. 175-231, hier 187-215.

 Dorit-Maria Krenn
Foto: Dorit-Maria Krenn