Als die Pest 1648 wütete, machten sich die Einwohner des Gnadenortes Kößlarn in Niederbayern auf und besuchten in zahlreichen Bittgängen die umliegenden Heiligtümer des Pestpatrons Sebastian. Ein Jahr später war alles vorbei. Die Hälfte der Einwohnerschaft lag in eilig ausgehobenen Massengräbern an den Ortsrändern verscharrt. Die Überlebenden schwuren einen Eid: Das sollte ihnen nicht mehr passieren. Jährlich wollten sie künftig am Festtag des Heiligen Sebastians mit dessen Statue durch den Markt ziehen, aufdass er sie fürderhin vor der Seuche bewahre. Sie haben sich an den Eid gehalten. Bis heute tragen vier Männer die Darstellung des Heiligen um den 20. Januar eines jeden Jahres auf seinem prächtigen barocken Tragbaldachin von der Kirche den Marktplatz hinab und wieder herauf, gefolgt vom Pfarrer mit dem Allerheiligsten, Bürgermeister und frommem Kirchenvolk. Auch der Patron hat sich an die ihm angetragene Abmachung gehalten: seither blieb der Markt von größeren Pestausbrüchen verschont.

Dafür drängte sich im Jahr des Unheils 2020 eine andere Heilige ins Bewusstsein. Sie war bislang nur ausgewiesenen Heiligenexperten und denen auch eher im Zusammenhang mit Geldangelegenheiten und skurrilen Martyrien als mit Seuchen bekannt: Sankt Corona. Ganz sicher war es nur ein blöder Zufall, dass moderne Virologen der neu aufgekommenen Seuche gerade ihren Namen gaben.

An einem Sonntag im Januar 2022 jedenfalls zogen die Kößlarner nach altem Brauch mit Sebastian, Pfarrer, Bürgermeister und Allerheiligstem über den Markt. Das Kirchenvolk folgte nicht mehr ganz so zahlreich wie Jahrzehnte und Jahrhunderte zuvor. Alles in allem waren es vielleicht 70 meist nicht mehr ganz junge Gläubige, die sich an das Gelübde der Ahnen gebunden fühlten: Sonntagmorgen, 9 Uhr, nasskalter Winter, ein bisschen Schnee und Matsch. Wer will es den daheimgebliebenen, von der Arbeitswoche erschöpften Langschläfern verübeln?

Der Sonntag verging in kaltem Grau, die Dämmerung kam früh. Der montägliche Arbeitsbeginn rückte näher. Und dennoch: am Abend versammeln sich erneut Menschen am Marktplatz. Im Zeichen der neuen Seuche hatten sie sich aufgerafft und liefen jetzt mit Kerzen und Lichtern den Marktplatz hinab und herauf. Dass die Kirchenglocken läuteten, war Zufall (das tun sie immer, abends um sechs), aber es passte zur Szenerie. Eine Statue der Heiligen Corona hatten sie nicht dabei und auch Pfarrer und Bürgermeister fehlten. Dafür gab es neben den Älteren nun viele Mittelältere, auch Junge, Jugendliche und Kinder. Alles in allem haben sich etwa 150 auf den Weg gemacht. Jünger und zahlreicher war diese Corona-Prozession. Sebastian, der Seuchenprotektor mit einer 373 Jahre alten Erfolgsgeschichte, sah plötzlich sehr alt aus.

Zwei Heilige, zwei rituelle Gänge durch den Markt – einen Unterschied gab es doch. Die Verehrer des Pestpatrons verkünden mit Gebet, Gesang und Blasmusik den Grund ihres Gangs: „Bitte für uns Heiliger Sebastian!“ Die Corona-Spaziergänger murmeln leise vor sich hin (meist alltäglichen Smalltalk), tragen Lampen und Lichter. Doch was ist die Botschaft? Was sie eint, ist offensichtlich der Unmut über diese zähe Pandemie und deren Zumutungen ‒ sicherlich auch: der Wunsch nach fühlbarer Gemeinschaft und Zusammengehen in unsicherer Zeit.

Das war wohl ziemlich genau die Gemütslage, die auch die Sebastianigänger des Pestjahres 1648 aus den Häusern getrieben hatte. Dass sie damit den Erreger weitertrugen und die Seuche noch befeuerten, konnten damals keiner wissen. Heute ist das den Allermeisten klar. Darum sieht man sie auch nicht beim Protestgang auf der Straße, allenfalls in einer Schlange, wenn der Impfbus am Kößlarner Marktplatz haltmacht.

Ludger Drost
Foto: Ludger Drost