Dass diese Pflanze zu den Rosengewächsen (Rosales) gehören soll, kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen. Die Brennnessel hat keine Stacheln, sondern Haare, Brennhaare um genau zu sein, die bei der kleinsten Berührung abbrechen und sich in die Haut bohren. Das ist äußerst lästig, weil sie über die einströmende Kiesel- und Ameisensäure schmerzhafte rote Quaddeln produzieren, die durchs anschließende unvermeidliche Jucken und Kratzen nur noch größer werden.

Doch dieses sog. „Unkraut“ steckt voller Überraschungen. Schon zu Hildegart von Bingens und zu Paracelsus‘ Zeiten, vor vielen Jahrhunderten, galt die krautige Staude als Heilkraut. Denn sie ist harntreibend, entzündungshemmend, entschlackend, schmerzstillend oder kann als fachlich korrekt angesetzte Jauche lästige Blattläuse vertreiben. Zur alternativen Prostatakrebsbekämpfung wird derzeit noch aktiv geforscht.

Die Brennnessel hat zigmal mehr Vitamin C als Kopfsalat. Sie dient zur Nudelfärbung und die hohlen Stängel sind ökologisch korrekte Trinkhalme. Im beginnenden Frühjahr können frisch gezupfte kleine, frische Blätter im Salat wichtige Vitamine liefern. Kenner bereiten mit diesem Spinatersatz Pesto, mengen das grüne Mus zu Polentagerichten und verwenden das Wildgemüse in Suppen. Kleingehackt und angewelkt sind Brennnesseln ein guter Futterzusatz für Schweine, Rinder, Schafe und Hühner; ja, es lassen sich mit diesem Futter sogar Weinbergschnecken für Edelrestaurants züchten!

Die Pflanze ist ein typischer Nährstoffzeiger, z.B. an überdüngten Acker-, Graben- und Bachrändern oder an Waldsäumen. Sie liebt lehmige, humose, nährstoffreiche, feuchte Böden. An optimalen Standorten kann sie bis zu 300 cm hoch werden. Der vierkantige verholzende faserige Stengel kann zu einem Stoff verwoben werden. In den Kriegszeiten des Dritten Reiches gab es ein Buch („Die Nesselfibel“), die die textilen Wundereigenschaften des reißfesten Nesselstoffes zur heimischen Uniformherstellung priesen und den industriellen Anbau propagierte. Heute erlebt die Biofaser der Fasernessel (Urtica dioica convar. Fibra) als Baumwollzumengung z.B. in Bio-Bettwäsche eine kleine Renaissance.

Aber auch für das Überleben zahlreicher Insekten ist die Brennnessel unverzichtbar: z. B. ernähren sich die Raupen des Kleinen Fuchses und des Tagpfauenauges ausschließlich von dieser Pflanze. Deshalb sollte der oder die kluge Gartenbesitzerin und -besitzer so schlau sein, eine kleine Ecke mit Brennnesseln im naturnahen Garten stehen zu lassen.

Angesichts dieser vielfältigen Wohlfahrtswirkungen und nützlichen Verwendungsarten der Brennnessel sollten wir unsere einseitige Einstellung zu sogenannten „Unkräutern“ überdenken. Und vom Wissen der Vorfahren und Kräuterkundigen vergangener Jahrhunderte lernen, die ohne wissenschaftliche Nachweise oft weisere Erkenntnisse hatten als unsere faktengläubige moderne Welt. In diesem Sinne ist die Auszeichnung der Brennnessel zur „Heilpflanze des Jahres 2022“ eine gute Wahl.

Helmut Wartner
Foto: https://pixabay.com/de/photos/brennnessel-gr%c3%bcn-unkraut-brennen-2564588/