Bräuche verbinden wir mit Geselligkeit und Lebensfreude. Man lässt den Alltag hinter sich und feiert nach traditionell festgelegten Regeln den besonderen Anlass in der Gemeinschaft. Dies geschieht zu kirchlichen und weltlichen Feiertagen, offiziellen Gedenktagen und persönlichen Festen sowie an Brauchterminen, die der Jahreskreislauf beschert. Mancherorts wird die Feierfreude getrübt, zum Beispiel wo Beteiligte vorgegebene Gepflogenheiten missachten. Zur Erinnerung: Gestohlene Maibäume gehören zum ritualisierten Spiel, zersägte Bäume, wie schon mehrfach geschehen, eben nicht.

Immer wieder gibt es Streit, wenn es um die Auslegung von Bräuchen geht. Ein solcher ist jüngst entbrannt wegen des Memminger Fischertags, der Mitte Juli stattfindet. Der alljährlichen Säuberung des Stadtbachs, der Memminger Ach, geht seit dem 16. Jahrhundert ein Abfischen voraus. Aus der Notwendigkeit der Bach-Reinigung verfestigte sich der Brauch, der nach 1900 zum Heimatfest mutierte und seit 1950 von einem eigens dazu gegründeten Verein organisiert wird. Der Brauch des Abfischens mit der Aussicht Fischerkönig zu werden, blieb bis dato den Männern vorbehalten. Dagegen klagte im zurückliegenden Jahr eine Memmingerin, die als Mitglied des Fischertagsvereins die Veranstaltung mitorganisiert. Zugleich monierte sie nun, dass Frauen beim Spektakel des Abfischens ausgeschlossen blieben, für sie damit keine Aussicht bestünde, Fischerkönigin zu werden und eben dies eine Benachteiligung darstelle. Die Klägerin hatte vor dem Amtsgericht Recht bekommen mit der Begründung, die Regel sei diskriminierend. Gegen dieses Urteil legte der Fischertagsverein unter Berufung auf Tradition und Vereinsautonomie Beschwerde ein. Der Streit geht also weiter.

Nun müsste man angesichts des Brauchs und seines historischen Kontexts nicht zwingend auf Diskriminierung schließen, wie man sie heute hineininterpretiert. Aber auch Traditionen, die bei solchen Streitigkeiten gerne bemüht werden, waren nie in Stein gemeißelt.

Bräuche werden von Gemeinschaften getragen. Seit jeher unterliegen sie wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Veränderungen. Nur so blieben viele Bräuche überhaupt lebendig. Andere, die sich als überholt und nicht mehr „brauchbar“ erwiesen, kamen ab.

Um ein einfaches Beispiel zu bemühen: Durch die rapiden Veränderungen in der Landwirtschaft haben die „Schlenkeltage“, wie man sie zu Mariä Lichtmess den Knechten und Mägden als ungeschriebenes Recht gewährte, ihre Bedeutung verloren.

Ein weniger argloses Beispiel: 2008 marschierten im niederbayerischen Rottal rund 1500 Haberfeldtreiber vor dem Hof des damaligen Deutschen Bauernverbandspräsidenten Sonnleitner auf und protestierten lautstark gegen die Agrarreformen. Die Aktion schlug besonders hohe Wellen und erntete Kritik. Denn Rügebräuche wie das Haberfeldtreiben sind aus gutem Grunde ausgestorben. Ihren ursprünglich harmlos-scherzhaften Charakter haben sie im Lauf ihrer Entwicklung verloren. In den schlimmsten bekannten Fällen wandelte sich das Haberfeldtreiben zu einer bösartigen Form der Selbstjustiz, das zu keiner Zeit rechtlich tolerierbar war. Und ganz allgemein gilt: Handfeste Beleidigung und Diffamierung sind sowieso nicht durch die Berufung auf Brauch und Traditionen zu rechtfertigen.

Also, nicht die Tradition entscheidet über die Ausübung und Gestalt von Bräuchen. Die Gesellschaft entscheidet, was für sie brauchbar ist. Deshalb sind Bräuche von Zeit zu Zeit einem Wandel unterworfen.

Maximilian Seefelder
Foto: Georg Gerleigner