Graf Zeppelin landete in Niederbayern

Es gibt Zeppelin-Briefmarken, Zeppelin-Uhren, Zeppelin-Restaurants, ein Zeppelinmuseum und – wen wundert es? – mehrere Zeppelin-Denkmale. Unter anderem befinden sich solche in Geinsheim/Südhessen, im württembergischen Leinfelden-Echterdingen südlich von Stuttgart, im oberschwäbischen Fischreute bei Kisslegg und gleich zwei am Bodensee in Konstanz und in Friedrichshafen. Eines steht in Niederbayern, und zwar im Gemeindegebiet Loiching nahe der Staatsstraße 2074 zwischen Lichtensee und Höfen, wo in Richtung Dingolfing ein Abzweiger rechts zur Wastlmühle führt. Was alle diese Denkmale einerseits verbindet, ist die Erinnerung an die revolutionäre Vision des berühmten Grafen Dr. Ing. Ferdinand von Zeppelin (1838–1917), Luftschiffe zu konstruieren, die in den Himmel aufsteigen können. Andererseits, wer dergestalt hoch hinaus strebte wie um die vorletzte Jahrhundertwende Graf Zeppelin, musste durchaus Rückschläge hinnehmen; und so markieren manche dieser Denkmale Orte, wo die „fliegenden Zigarren“ des Luftfahrtpioniers gezwungenermaßen notlanden mussten. Auch das niederbayerische Zeppelin-Denkmal erinnert an die Landung eines nach seinem Konstrukteur benannten Luftschiffs, die am 1. April 1909 mehr oder weniger ungeplant aber glücklicherweise glimpflich ablief.

Links oben: Der Zeppelin auf dem Feld vor der Wastlmühle

Links oben: Der Zeppelin auf dem Feld vor der Wastlmühle

Das „Reichsluftschiff Z 1“ mit Graf Zeppelin sowie der Piloten- und Techniker-Mannschaft an Bord sollte an diesem Tag seine erste Landung auf bayerischem Boden absolvieren. Vorgesehen war dafür der Münchner Exerzierplatz Oberwiesenfeld, das heutige Olympiagelände. Prinzregent Luitpold und die königliche Familie wollten dem spektakulären Ereignis beiwohnen, nicht zuletzt um die mutigen Flugpioniere mit gebührenden Ehren zu empfangen. Dazu kam es allerdings nicht, zumindest nicht an diesem Tag. Nach dem Start in der Friedrichshafener Werft erreichte das Luftschiff zwar den Zielort München, doch alle Landungsversuche schlugen dort fehl. Heftiger Wind trieb den Zeppelin ab. Die Landungshelfer hatten keine Chance, das fliegende Schiff mit den Landungsseilen zu sichern. Anfangs versuchten sie diesem noch im Laufschritt zu folgen. Vergeblich. Dann begann mit Eisenbahn und Automobilen eine aufregende, ja bisweilen halsbrecherische Verfolgungsjagd in nordöstliche Richtung. Auch eine Landung in Landshut scheiterte. Die Gefahr, dass das 128 Meter lange Luftschiff mit seinen knapp 12 Metern Durchmesser bis in den hügeligen Bayerischen Wald abgetrieben wird, wollte Graf Zeppelin unter allen Umständen verhindern. Dort wäre eine Landung unmöglich gewesen. Die nach Landshut nächstgeeignete Landefläche lag im Isartal. Im Loichingermoos glückte schließlich die Landung auf freiem Feld. Die sensationelle Ankunft, zu der viele Schaulustige herbeigeeilt waren, erfolgte gegen 15.00 Uhr. Dieses spektakuläre Ereignis wurde selbstverständlich mehrfach fotografisch festgehalten. Bald darauf konnte man das gelandete „Reichsluftschiff Z1“ bereits auf Ansichtskarten bewundern und mit Grüßen aus der Heimat, die damit quasi im Luftfahrtzeitalter angekommen war, verschicken.

Eben dieser Episode in der bewegten Luftfahrtgeschichte Deutschlands widmete man vor Ort einen Gedenkstein. Es handelt sich dabei um einen kegelförmigen Tuff-Kalkstein, der auf einem dreiteilig abgestuften Sockel am Wegesrand steht. Im rechteckigen, nach Nordwesten zur Hauptstraße hin ausgerichteten Schriftfeld steht zu lesen: ZEPPELIN LANDVNG DES ERSTEN LENKBALLONS in BAYERN 1.IV.1909. Einen Tag später konnte das „Reichsluftschiff Z 1“ schließlich doch noch wie ursprünglich geplant auf dem Oberwiesenfeld in München gelandet werden. Dort war der Zuschauerandrang überwältigend, obwohl die eigentliche bayerische Premiere bereits auf niederbayerischem Boden und ohne Prinzregenten stattgefunden hatte. Aber das interessierte in München nicht mehr.

Maximilian Seefelder
Foto: Maximilian Seefelder

 

„bwegt“ – Abenteuer mit der Rottal-Bahn

„bwegt. Mobilität für Baden-Württemberg“, so steht es auf dem hellblauen Zug, der für mich am „Bedarfshalt“ hält. Ein Bedarfshalt, das muss man wissen, ist ein „Haltepunkt“, an dem der Zug nicht unbedingt hält, sondern eben nur bei „Bedarf“. Man sagt übrigens „Haltepunkt“ – „Bahnhof“ wäre bei einem Gleis mit einem Bahnsteig zu hoch gegriffen. Ein „Bedarf“ wird sichtbar, wenn ich zum Beispiel auffällig genug am Bahnsteig stehe oder ein Fahrgast im Zug sich beim „Triebfahrzeugführer“ persönlich meldet. Das darf er, obwohl es ein Schild gibt: „Den Fahrer bitte nicht ansprechen“. Willkommen bei der Rottal-Bahn, auf der längsten Nebensbahn Deutschlands! Ja, richtig: wir sind in Niederbayern, nicht im Schwarzwald oder auf der Schwäbischen Alb. Hier, weit hinter München und Mühldorf, kommen die ausrangierten Züge aus dem Nachbarbundesland zum Einsatz. Hier sprechen Reisende und Bahnpersonal noch zueinander und kommunizieren ihren Ausstiegswunsch nicht nur anonym per Knopfdruck.

Wenn man das Klischee vom rückständigen, gleichwohl liebenswürdig-gemütlichen Eberhofer-Niederbayern bedienen möchte, ist so eine Fahrt von Passau nach Neumarkt-St. Veit empfehlenswert. Hier bieten sich echte „Lost-Places“ als Drehorte an: aufgegebene Haltepunkte in Pfenningbach oder Kaismühle, ehemalige Bahnhofsgebäude voll marodem Charme im aufgegebenen Kurort Bad Höhenstadt oder in Anzenkirchen.

 

Und es ist ja auch schön, auf diese Weise durch die sattgrüne, sanfthügelige Rottallandschaft zu bummeln, wenn hinter den schon etwas trüben Scheiben Pferdeweiden und Dorfkirchlein auftauchen wie in einer Modelleisenbahn. Andernorts macht man aus sowas ein Tourismusevent: Ein historischer Triebwagen vom gleichen Typ der Baureihe 628 wie im Rottal bringt Wanderer und Radler wochenends auf der eingleisigen Strecke der Ilztalbahn auf historisch abgewetzten Polstern durch Wälder und Auen in den Bayerischen Wald. Das können wir im Rottal doch auch! Und zwar täglich! Im Stundentakt (…naja…im Normalfall…)! Nicht nur Samstag und Sonntag dreimal täglich: „bwegte“ Nostalgiefahrten auf der 135 Jahre alten Strecke durch das Bayerische Golf- und Thermenland!

Bisher fahren hier außer ein paar versprengten Touristen auf dem Weg ins Bäderdreieck fast nur Alltagsmenschen: Schüler vor allem, denen noch die Erlaubnis fehlt, die parallelen Bundesstraßen und bald auch Autobahnen zu nutzen. Ein paar unablässige Pendler, die sich von der denkmalwürdigen Technik und den damit verbundenen Verspätungen und Zugausfällen nicht abschrecken lassen. Menschen eben voll niederbayerischer Gelassenheit, die sich beim Triebfahrzeugführer nicht nur ordnungsgemäß melden, sondern ihm beim Verlassen des Zugs noch ein freundliches „Pfüagott“ oder ein lässiges „Servus“ schenken. Menschen, die sich nicht lautstark beschweren, aber vielleicht ganz tief in ihrem Inneren – das würden sie aber wirklich nie laut sagen – dankbar sind: dankbar, dass Baden-Württemberg auch noch im fernen Niederbayern für Mobilität sorgt.

(Transparenzhinweis: der Autor stammt aus dem Schwarzwald und ist seit mehr als drei Jahrzehnten im Rottal zuhause)

Ludger Drost
Fotos: Asenkerschbaumer/Drost

Rauputzdekor an Landshuter Fassaden

Bei einem Spaziergang durch die Stadt stößt man immer wieder auf solch dekorativ gestaltete Häuserfassaden. Laut dem ehemaligen Generalkonservator Volker Liedke entstanden diese Fassadendekorationen im 17. Jahrhundert. Ein erstes Rauputzdekor erhielt die Hofseite des Torhauses der Burg Trausnitz. Liedke vermutete, dass das Rauputzdekor eine höfische Eigenart war, die möglicherweise durch den italienischen Hofmaurermeister Francesco Franculos aus Italien nach Landshut gebracht wurde. Franculos wurde im Jahr 1589 Bürger Landshuts. Die älteste Rauputzfassade in der Stadt findet sich am Haus Dreifaltigkeitsplatz 12. Dieses Haus gehörte den Grafen von Preysing, die zu jener Zeit kurfürstliche Räte waren. Scheinbar schwappte die höfische Mode auf das Bürgertum über, denn im Folgenden erhielten etliche Bürgerhäuser solche Putzdekorationen auf ihrer Fassade. Teilweise erhielten sogar spätgotische Häuser im Zuge von Fassadenrenovierungen ein aufwendiges Rauputzdekor. Als Beispiel hierfür gelten die Häuser Obere Länd Nr. 49 und Nr. 49 ½.

Die beiden spätmittelalterlichen Häuser Obere Länd 49 und 49 ½ mit ihren Rauputzfassaden

Laut Stefanie Fuchs vom Bauarchiv Thierhaupten gab es verschiedene Möglichkeiten, Dekorationsmuster aus Rauputz herzustellen. Als erster Schritt wurde ein Grundputz als Rücklagenfläche aufgebracht. Danach wurde der Rauputz – ein Kalkputz mit runden, gröberen Zuschlägen – aufgetragen und mit dem Dekor versehen. Das Dekor konnte mit Schablonen und/oder Modeln im Putzgrund angebracht werden. Manche der Putzverzierungen stellte man aber sicher nicht mit Schablonen her, sondern sie wurden mit Kratzeisen, Messern und Schlingen bearbeitet. Putzquader konnten mithilfe von Latten oder mit Putzhobeln hergestellt werden. Im Jahr 2020 beschäftigten sich Fachleute des Vereins Bauzunfthaus e.V. mit dieser Form des Putzdekors und mit der Frage, wie es hergestellt wurde. Damit leistete der Verein einen Beitrag zum Erhalt und zur weiteren Erforschung der Rauputzfassaden.

Die Regierungsstraße Nr. 570 in den 1930er Jahren. Im Vordergrund einer der Bischofsstäbe (Stadtarchiv Landshut Fotosammlung)

Mario Tamme
Fotos: Mario Tamme/Hans Wallner

Die „Kulturlandschaft Wald“ ist das Kulturdenkmal des Jahres 2023

Jede(r) Märchen- und Sagenliebhaber/in, die oder der mit „Hänsel Gretel“ oder „Rotkäppchen“ aufgewachsen ist, verbindet mit dem Lebensraum Wald ihre oder seine eigene besondere Vorstellungswelt und Erinnerungen aus der Kindheit. In grauer Vorzeit war ganz Mitteleuropa von Wäldern bedeckt. Alles, was uns heute oberflächlich wie „Natur“ vorkommt, ist in der Regel menschengemacht. Der Bayrische Wald in Niederbayern wurde z.B. von tatkräftigen Mönchen aus Niederalteich besiedelt, die zusammen mit ihren Mitstreitern in mühsamster Handarbeit das flächige Waldgebiet für Siedlungen und Landwirtschaft urbar gemacht haben. Der Wald war über Jahrhunderte Lieferant für die Köhlerei, Pechbrennerei, Brenn- und Bauholz, oder Zufluchtsort in Kriegs- und Notzeiten.

Aquarell: Helmut Wartner

Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt vom Staatsbeamten Carl von Carlowitz, der schon 1713 überlegte, dass es sinnvoll sei, nicht mehr Holz zu fällen als nachwächst, um produktiven Bergbau betreiben zu können. Hinzu kommt heute auch, dass der Wald als Ort der Naturbeobachtung von bedrohten Tier- und Pflanzenarten, der Kontemplation, der Erholung und für sportliche Aktivitäten eine manchmal unvereinbare Vielfalt an Nutzungen erfährt. Außerdem gibt es gibt die Strategie „Wald vor Wild“, die auf den übermäßigen Schalenwildbesatz hinweist. Die starke Jagdverbands-Lobby sähe es vielleicht lieber, es hieße „Wild vor Wald“. Doch damit trifft sie aktuell nicht mehr den Zeitgeist.

Auch in Bayern existieren lediglich nur noch winzige Reste von Naturwaldbeständen und die immer noch umstrittene Ausweisung eines 3. Nationalparks im Steigerwald zeigt, wie brisant und hochpolitisch aufgeheizt die Diskussionen derzeit sind. Oft wirken ehemalige streng eingezäunte fürstliche Mischwald-Jagdgebiete oder sogenannte ehemalige Hutewälder heute am „natürlichsten“. Dort weideten einst bis ins 18. Jahrhundert hinein Schafe, Kühe und Schweine und sorgten so für parkartige Waldbestände. Fichtendominierte Bauernwälder stehen heute durch flächigen Borkenkäferbefall in Trockenzeiten vor einem gewaltigen Umbruch. Die Menschen, die für die Staatsforste zuständig sind, müssen mit ministeriell verordneten Renditevorgaben und vorbildlichen naturnahen Bewirtschaftungsformen jonglieren. Außerdem stehen jetzt hunderte von Windradprojekten in den Startlöchern. Alle Betroffenen suchen nach wirtschaftlichen Nutzungen und trockenheitsresistenten Baumarten der Zukunft.

Doch der Lebensraum Wald ist zäh. Gerade das unlängst gefeierte 50-jährige Bestehen des Nationalparks Bayerischer Wald zeigt, dass geduldiges Beobachten der natürlichen Regenerationskräfte mit dem Motto „Natur Natur sein lassen“ langfristig viel billiger und standortgerechter ist als vermeintliche Eingriffe zugunsten traditionell gewohnter Waldbilder. Sind wir froh, dass wir auch heute noch Relikte wie Holztriften, Niederwälder, Kopf- und Schneitelbäume oder Bildstöcke bäuerlicher Volkskunst mit historischen Begebenheiten aller Art in unseren Wäldern finden können, die überwiegend von ehrenamtlich agierenden Initiativen, Vereinen und EinzelkämpferInnen als Relikte inmitten der Kulturlandschaft gepflegt werden. Die Schutzgemeinschaft deutscher Wald (www.sdw.de) unterstützt die Kampagne zur Kulturlandschaft des Jahres als Kooperationspartner.

Helmut Wartner
Foto: https://pixabay.com/de/photos/wald-natur-landschaft-b%C3%A4ume-pfad-4364052/

Denkmaltag – Denkmalpreis

Heuer sind es 30 Jahre, dass die Deutsche Stiftung Denkmalschutz den „Tag des offenen Denkmals“ ausruft. Der sogenannte „Denkmaltag“, der seit 1993 an jedem zweiten September-Sonntag begangen wird, ist das größte Kulturevent Deutschlands. Er ist Teil einer gemeinsamen europäischen Idee, des „European Heritage Day“, an dem jedes Jahr 50 europäische Länder teilnehmen. Allein in Deutschland fanden am „Tag des offenen Denkmals“ 2022 rund 8.000 Veranstaltungen statt; mehr als 5.000 Denkmale, viele davon in Privatbesitz und nicht öffentlich zugänglich, waren für die interessierte Bevölkerung geöffnet.

Ziel der großangelegten Aktion ist es, auf die Bedeutung des kulturellen Erbes in Gestalt von Denkmalen aufmerksam zu machen und Interesse für die „gebaute Kultur“ vergangener Epochen zu wecken. Schließlich sind diese historischen Bauwerke Teil der Geschichte, der Kultur und Identität nicht nur unseres Landes.

Dabei geht es übrigens nicht allein um sogenannte Sehenswürdigkeiten, wie wir sie in Tourismusprospekten so häufig abgedruckt finden, also um beeindruckende Kathedralen und kunstvoll ausgestattete Kirchen, mächtige Burgen und prunkvolle Schlösser. Zum Denkmalbestand zählen neben diesen Sakral- und Herrschaftsbauten auch einfache Bürger- und Bauernhäuser, ausrangierte Industriebauten, historische Gartenanlagen und vieles mehr. Die „Denkmallandschaft Deutschlands“, von der die Deutsche Stiftung Denkmalschutz spricht, ist umfassend und vielfältig.

Vor allem liegt diese „Landschaft“ nicht irgendwo in der Ferne, sondern sie beginnt bereits in nächster Nähe – in der Nachbarschaft, im eigenen Wohnviertel oder Ort. Denn wer kennt kein Baudenkmal in seinem unmittelbaren Umfeld? Das kann ein verlassenes Gebäude sein, das so lange dem Verfall preisgegeben ist, bis sich ein Interessent, Liebhaber oder Investor zur Instandsetzung findet.

Die Weinzierl-Häuser in Arnstorf vor der Instandsetzung

Das kann aber ebenso ein bereits vorbildlich saniertes Haus sein, vor dem Vorübergehende ob seiner historischen Qualität und Besonderheit bewundernd stehen bleiben, um es näher zu betrachten. In welchem möglicherweise erbärmlichen Zustand es sich wahrscheinlich zuvor zeigte, wie vielleicht darum gestritten und um seinen Erhalt gerungen werden musste, ist zu diesem Zeitpunkt vergessen.

Auch der Bezirk Niederbayern engagiert sich seit 1956 in der Denkmalpflege durch die finanzielle Förderung von Denkmalinstandsetzungen. Zusätzlich lobt er seit 2002 jedes Jahr am „Tag des offenen Denkmals“ einen eigenen Denkmalpreis aus. Damit werden Personen bedacht, die (ihre) Denkmale fachgerecht und vorbildlich hergerichtet haben. Der Denkmalpreis des Bezirks Niederbayern geht heuer ins Rottal, und zwar nach Arnstorf. In der dortigen Scheibengasse befinden sich zwei nebeneinanderstehende historische Blockbauten, die nach jahrzehntelanger baulicher Vernachlässigung in ihrem Bestand höchst gefährdet waren.

Die Weinzierl-Häuser während der Sanierungsphase

Die Weinzierl-Häuser während der Sanierungsphase

Warum sie als Denkmale eingestuft und für erhaltenswert befunden wurden, liegt nicht einfach nur kategorisch an ihrem Alter: Hausnummer 2 stammt aus dem Jahr 1550, Hausnummer 4 aus 1638. Zweifellos sieht man Blockbauten aus dieser Zeit nicht mehr alle Tage. In der Gesamtschau der denkmalpflegerischen Bewertung kommt aber hinzu, dass sie ebenso von ortsgeschichtlicher und volkskundlicher Bedeutung sind: Es handelt sich nämlich um sogenannte Handwerker-Häuser. Sie wurden von den ortsansässigen Grundherren für die Weinzierle, also für die Winzer, gebaut. Diese waren im 15. und 16. Jahrhundert als Arbeitskräfte der Hofmarksherren in den umliegenden Weinbergen tätig. Noch für das frühe 17. Jahrhundert sind in den Handwerkslisten des Arnstorfer Marktarchivs sieben solcher Weinzierle nachweisbar. Die Weinzierl-Häuser in der Scheibengasse sind also materielle Zeugnisse der einstigen Arnstorfer Weinbaukultur. Ihre architektonische Gestalt, die Holzbauweise, der Standort, der ortsgeschichtliche Bezug sowie der volkskundlich handwerkliche und landwirtschaftliche Hintergrund machen diese unscheinbaren und – wie könnte es anders sein – bescheidenen Häuser zu einmaligen Denkmalen. Wer bereit ist, solche Aspekte nachzuvollziehen, wird auch verstehen, worum es bei der Denkmalpflege geht: nicht nur um das Kunstvolle, sondern ebenso um das Einfache. Schließlich lebt/e der Großteil der Bevölkerung in eher einfacheren, in bescheidenen Verhältnissen. „Volkskultur“ ist und bleibt ein wesentlicher Teil unserer Kulturgeschichte, zur der selbstverständlich auch die in Schul- und Lehrbüchern vermittelte Herrschaftsgeschichte und Hochkultur zählen – aber eben nicht nur. Insofern ist es Eigentümern wie denen der Arnstorfer Weinzierl-Häuser hoch anzurechnen, dass sie sich um deren Instandsetzung und damit um deren Fortbestand kümmerten. Ohne diese Häuser wäre der Markt um zwei wichtige Zeugnisse seiner Kulturgeschichte ärmer. Auch deshalb geht der Kulturpreis 2023 des Bezirks Niederbayern nach Arnstorf.

Maximilian Seefelder
Fotos: Sabine Bäter, S. Zuber und Maximilian Seefelder

Ausgezeichnet! Bild-Werk Frauenau

Jeder Landstrich zeichnet sich durch etwas regionaltypisches aus. Seien es regionale Spezialitäten wie der Hopfen in der Hallertau oder die Spreewalder Gurke, oder regionaltypische Bauweisen. Dörfer und Städte wurden jahrtausendelang von den in der unmittelbaren Umgebung zur Verfügung stehenden Baustoffen geprägt. Man denke in Niederbayern an Granit, Lehm und Holz, aber auch an Materialien wie Glas. Allesamt waren und sind sie prägend. Als identitätsstiftend gilt die jahrhundertalte Glastradition für den Bayerischen Wald.

Mit dem Niedergang der Glasindustrie sowie dem Schließen von zwei der einstmals drei großen Glashütten in Frauenau ging ein dramataischer Verlust überlieferten Wissens einher. Als vor über 30 Jahren der Gründungsvater und Glaspionier Erwin Eisch zusammen mit Mitstreitern den Verein „Bild-Werk Frauenau“ gründete, hatten sie den Erhalt und die Weiterentwicklung des Kulturerbes Glas zum Ziel. Neben grenzüberschreitenden Projekten, Stipendienprogramme zur Nachwuchsförderung oder der Organisation von Kulturveranstaltungen, machte sich der Verein einen Namen durch seine jährlich stattfindende internationale Sommerakademie. Dabei fördert der Verein den Austausch zwischen weltweit anerkannten Künstlerinnen und Künstlern mit der regionalen Kunstszene, wie auch mit kunstinteressierten Laien. Der traditionelle Glasmacherort wird so zu einem lebendigen Brennpunkt der internationalen Studioglasszene mit regionaler und weltweiter Ausstrahlung.

Der am 18.09.1987 im ostbayerischen Glasmacherort Frauenau (Landkreis Regen) ins Leben gerufene Verein „Bild-Werk e.V.“ hat sich im Laufe der Zeit zu einer unverzichtbaren und überregional anerkannten Institution in Sachen Glaskunst, Musik- und Theaterkultur im Bayerischen Wald entwickelt. Als Ort der künstlerischen Begegnung, als grenzüberschreitendes Netzwerk und Forum für Innovation und Weiterbildung in Kunst und Glashandwerk ist das Bild-Werk Frauenau europaweit einzigartig. Gerade der aktive Beitrag des Vereins, das Wissen und Können der Glasmacher zu bewahren und es im regionalen und grenzüberschreitenden Austausch innovativ künstlerisch weiterzuentwickeln, macht ihn auszeichnungswürdig.

Nicht ohne Grund verleiht der Bezirk Niederbayern dieses Jahr seinen Kulturpreis an „Bild-Werk Frauenau e.V.“.

Cindy Drexl
Fotos: Michal Poustka

Die „Sanierung“ und das „Lausdenkmal“ in Plattling

Plattling hat sich in den 1860er und 1870er Jahren zu einem bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt entwickelt und wurde aufgrund des damit einhergehenden Bevölkerungswachstums 1888 zur Stadt erhoben. Während des 1914 ausgebrochenen Ersten Weltkriegs kam es häufig zur Verlegung von Truppen von den östlichen oder südöstlichen Kriegsschauplätzen an die Westfront bzw. zu deren Transport nach Deutschland. Aus den oben genannten Gebieten schleppten deutsche Soldaten, aber auch Kriegsgefangene Seuchen wie Fleckfieber oder Typhus ein, die durch Kopf-, Filz- und Kleiderläuse übertragen wurden. Von der Westfront ging so gut wie keine entsprechende Gefährdung aus. Daher existierten nach dem ersten Kriegswinter hinter der Ostfront und in östlichen Regionen des Reiches Entlausungsanstalten („Sanierungen“). 1915 wurde beschlossen, auch in Bayern an den betreffenden Eisenbahnlinien nahe der Grenzstationen Salzburg und Passau bei Rosenheim und Plattling jeweils eine solche Anlage in Betrieb zu nehmen.

Von August bis Oktober 1915 entstand die Plattlinger Sanierung circa 1,2 km westlich des Bahnhofs – hauptsächlich auf dem Gebiet der Gemeinde Otzing – südlich der Strecke in Richtung München. Zahlreiche Soldaten (vor allem Pioniere), Kriegsgefangene, Zimmerer und Bauhilfsarbeiter errichteten 43 hölzerne Gebäude (unter anderem Mannschaftsbaracken, Kantinen, Toiletten, Stallungen, Ruheräume, eine Wäscherei, Magazine und einen Wasserturm). Außerdem wurden von Soldaten der Bayerischen Eisenbahntruppe ca. 15 km Gleisanlagen verlegt.

Das mittlerweile gewerblich genutzte Areal der Sanierung nach 1920: vorne links die Bahnlinie nach München, in der Mitte der einstigen Anlage der Wasserturm, im Hintergrund der Plattlinger Stadtrand und vorgelagerte Siedlungen (Bayerisches Kriegsarchiv)

Die von einem „Umladekommando“ und einem „Sanierungskommando“ verrichtete Arbeit ging folgendermaßen vor sich: Die „unreinen“ Züge fuhren von Nordosten in die Sanierung. Die Männer wurden durch Duschen bzw. Baden und Scheren der Haare von Kopf- und Filzläusen befreit, die Uniformen und andere Ausrüstungsgegenstände – auch die zu den Pferden gehörigen – mittels Desinfektion durch Hitze beziehungsweise chemische Substanzen von Kleiderläusen gereinigt. Außerdem erhielten die Behandelten frische Wäsche sowie eine Mahlzeit und nach dem Abschluss der Prozedur einen „Entlausungsschein“. Daraufhin erfolgte die Weiterfahrt in Richtung München in neu zusammengestellten „reinen“ Zügen.

In der Plattlinger Anlage waren zunächst circa 1.000 Soldaten im „Umladekommando“ sowie 200 im „Sanierungskommando“ stationiert. Pro Tag konnten maximal 6.000 Mann (in drei achtstündigen Schichten jeweils 2.000) behandelt werden. Bei dieser Auslastung wurden monatlich unter anderem 4000 kg grüne Seife, 2000 kg Soda, 25 hl Karbolseifenlösung, 875 kg Schwefelkohlenstoff und 7500 kg Chlorkalk verbraucht. Innerhalb der Entlausungsanstalt war die „unreine“ streng von der „reinen“ Zone getrennt. Die Gleisanlagen dienten auch zum Abstellen von Geschütz- und Munitionswagen, die nicht saniert werden mussten.

In der Sanierung stationierte Soldaten, links im Hintergrund der Wasserturm (Archiv Karl Kraus)

Die Rosenheimer Sanierung verfügte über eine Tagesleistung von 12.000 Mann. Da diese aufgrund ihrer geografischen Lage mehr frequentiert war, wurden in Plattling nach dem Frühjahr 1916 nur mehr je maximal 4.500 Mann behandelt, sodass man im Sommer dieses Jahres das dortige Stammpersonal reduzierte. Außerdem spielten die Materialsanierung und die Behandlung einzelner Personen anstatt ganzer Truppenteile in Plattling eine zunehmende Rolle. Im September 1917 waren in Plattling noch etwa 700 Soldaten und einige Hilfsdienstpflichtige stationiert. Das Personal war jedoch nicht ausgelastet und wurde daher zeitweise als Arbeitskräfte auf Bauernhöfen und in Betrieben der Umgebung eingesetzt.

Nach der im November 1918 ausgebrochenen Revolution und dem Kriegsende kam es zu Disziplinlosigkeit, Diebstahl von Heeresgut und Ausschreitungen, woraufhin man im Januar 1919 zuverlässige Truppen nach Plattling verlegte. Die Sanierung wurde zwar noch zur Behandlung heimkehrender Soldaten in Funktion gehalten, von Februar bis Mai erfolgte jedoch deren schrittweise Auflösung, das heißt die Demontage von bestimmten Baracken und Gleisanlagen. Bis September 1919 war ein Nachkommando vor Ort. Im Oktober zeigten unter anderem zahlreiche Behörden und Firmen Interesse an einem Erwerb des Areals, das schließlich die „Bayernwerk AG für Holzverwertung“ ankaufte. Im April 1920 wurden zahlreiche weitere Gebäude abgebrochen. Das markanteste der verbleibenden Bauten war der Wasserturm. Danach siedelten sich weitere Betriebe in der ehemaligen Sanierung an. Vor etwa 20 Jahren erfolgte der Abbruch des Wasserturms. Vor Ort erinnert heute nur noch eine von zwei Betonwänden eingefasste, parallel zum Bahngleis verlaufende Verladerampe (circa 17 m breit, 250 m lang und 1,1 m hoch) im Bereich des einstigen „Umladekommandos“ an die Entlausungsanstalt.

Ein skurriles Relikt der Sanierung ist das „Lausdenkmal“. Dabei handelt es sich um eine 3,20 m hohe Betonstele, die einst am östlichen Tor der Anlage aufgestellt war und später in einem angrenzenden Privatgrundstück in der Nähe eines Betonwerks ihren Platz fand. 2009 wurde das Denkmal von der Stadt Plattling übernommen, umfassend restauriert und 2010 am östlichen Rand des Bahnhofplatzes aufgestellt. Auf der Vorderseite befindet dich die Aufschrift „ERBAVT VON DER STV [Stellvertretenden] INTENDANTVR I A K [des I. bayerischen Armeekorps] VND DEM EISENBAHNBATAILLON MVNCHEN [München]“ sowie darüber eine stilisierte Laus. Auf der Rückseite ist unter zwei gekreuzten Werkzeugen die Erbauungszeit der „Sanierung“ angegeben: „AVGVST MIT SEPTEMBER MCMXV [1915]“

Literatur:

Stefan Nöth, Das Lausdenkmal. Zur Geschichte der Sanierungsanstalt Plattling 1915 – 1920, in: Der Storchenturm 44 (1988), S. 78-91.

Karl Schmotz, Vom „Herrenhof“ zur „Sanierung“ – eine lineare Baumaßnahme zwischen Otzing und Plattling, Lkr. Deggendorf, in: Vorträge des 27. Niederbayerischen Archäologentages 2008, Rahden/Westfalen 2009, S. 247-267.

Florian Jung
Fotos: Florian Jung, Bayerisches Kriegsarchiv, Archiv Karl Kraus

Niederbayerische Frauen I: Anna Caroline de Belleville-Oury (1806-1880) Eine vergessene Berühmtheit aus Landshut

Die kleine Anna war ein Wunderkind. Wunderkinder werden leider auch älter und das Wunder damit immer weniger. Deswegen machen sie ihre Eltern meistens einige Jahre jünger. So war das auch bei der kleinen Anna. Weil wir wissen, dass sie 1816 mit 10 Jahren nach Wien zu Carl Czerny (alle, die einmal wenigstens ein bisschen Klavier gelernt haben, kennen ihn ganz bestimmt wegen seiner vielen verschiedenen Etüden) kam, um bei ihm ihre Klavierstudien bis 1820 fortzusetzen, wissen wir auch, dass das Geburtsdatum 1808, das heute im Umlauf ist, höchstwahrscheinlich falsch ist. Czerny schreibt nämlich in seinen Memoiren:

„Im Jahr 1816 nahmen meine Eltern die kleine, damals zehnjährige Ninette Belleville in Kost und Wohnung und ich zur musikalischen Ausbildung. Es war eines der seltensten musikalischen Talente, und da sie sich nach dem Willen ihres Vaters der Musik widmen sollte, so hatte ich nun eine Schülerin, welche auch durch zahlreiches öffentliches Produzieren meinen schon ohnehin bedeutenden Lehrerruf vermehrte.“ (Carl Czerny: Erinnerungen aus meinem Leben, Wien [1860], Reprint Baden-Baden,1968.)

Annas Vater Carl de Belleville (ca. 1779–1851) stammt aus Rouen in Frankreich, kam 1800 mit dem napoleonischen Heere nach Bayern und war von 1801-1806 Sprachlehrer an der Universität in Landshut. Danach war er als Sekretär, Übersetzer und Lehrer in Augsburg tätig. Also kann Anna gar nicht 1808 geboren sein, denn 1808 war die Familie längst in Augsburg und der Geburtsort ist ja Landshut, denn im Kirchenbuch der Pfarrei St. Martin steht, dass sie am 24. Januar 1806 geboren ist. Ihre Mutter Amalia geborene Eck (1779–1846) war eine Tochter des Mannheimer Hofmusikers und Hornisten Georg Eck.

Schon während ihrer Zeit in Wien, und auch davor, z. B. 1816 in München und Augsburg, konzertiert Anna und die Berichterstatter loben ihr „ausgezeichnetes Talent“ (Allgemeine musikalische Zeitung“ vom März 1819). Ebenfalls 1819 hat sie, wenn wir William Gardiner, ein englischer Komponist und Bewunderer Beethovens, der zur selben Zeit in Wien weilt, Glauben schenken wollen, Beethoven dessen Klaviersonate As-Dur op. 26 vorgespielt:

„Mademoiselle de Belleville was the favourite of Beethoven. In her eleventh year she was a welcome visitor to the deaf musician, who sat by the hour, with his long trum- pet in his ear, listening to her inimitable touch of his divine adagios.by the hour, with his long trumpet to his ears, listening to her inimitable touch of his divine adagios.” (William Gardiner: Music and Friends, London [1853]).

Bevor sie mit dem Vater eine große Konzertreise unternimmt (ein Wunderkind muss natürlich auch Geld abwerfen), gibt sie im November 1820 ein Abschiedskonzert. Sie spielt das Klavierkonzert cis-Moll op. 55 von Ferdinand Ries, Schüler und Bewunderer Beethovens, und eigene Variationen:

„Am 1sten im k. k. Redoutensaale: Abschiedskonzert der geschickten Klavierspielerin, Fräulein Belleville, welche das Cis moll Concert von Ries, und selbst gesetzte Variationen mit außergewöhnlichem Beyfall vortrug, der auch ihrem seltenen Talente mit vollem Rechte gebührte.“ (Allgemeine Musikalische Zeitung, Wien 1821, Sp. 9).

Die erste Station der großen Tournee durch Europa ist im Dezember Prag. Auch hier ist der Berichterstatter begeistert:

„[W]ir waren recht sehr erfreut, in einem so jugendlichen Alter von einem Frauenzimmer einen so präcisen, kraftvollen und gerundeten Vortrag zu hören. Wenn wir sagen, dass sie das Concert in Es dur von Ries nach allen Kunstforderungen mit dem einstimmigsten Beyfall ausgeführt hat, so lassen wir ihr nur strenge Gerechtigkeit widerfahren. In Variationen von ihrer eigenen Erfindung, welche in bescheidenem modernen Geschmack verfasst sind, und besonders auf ihre Individualität berechnet zu seyn scheinen, zeigte sie hoffnungsvolle Anlagen zur Composition, welche unter einer guten Leitung ganz sicher zur Entwicklung und Ausbildung gedeihen werden, und so dürfte wohl die Meinung aufs neue bekräftigt werden, dass das weibliche Geschlecht eben sowohl zur schaffenden als zur ausübenden Tonkunst geeignet sey.“ (Allgemeine Musikalische Zeitung, Wien 1821, Sp. 73 f.).

Dass Pianistinnen und Pianisten komponieren, ist heute eine Ausnahme. Damals war es ganz normal, dass sie in ihren Programmen auch eigene Werke spielten und auch improvisierten: Beethoven z. B. hat Wien als genialer Improvisator erobert und selbst Franz Liszt hat in seinen Konzerten noch wie damals Beethoven auf Zuruf aus dem Publikum improvisiert.

Die große Tournee durch Europa führt Vater und Tochter bis nach Paris. Aber der Vater scheint mit den Einnahmen, die die Konzerte einbringen nicht besonders gut umgegangen zu sein. Die Schulden wachsen ihm über den Kopf und er hat kein Geld für die Rückreise nach München. Mit Konzerten in Tours und Orléans können sie gerade einmal die Schulden zurückzahlen. Die Auftritte in Lille und Gent bringen nichts ein, gerade einmal die Unkosten. Konzerte in Brüssel müssen wieder abgesagt werden, weil Anna krank ist. Zu einem Konzert in Antwerpen können sie nur reisen, weil sie all ihre Wertsachen als Garantie in Brüssel zurücklassen. Dort bricht Anna, die die Krankheit noch nicht völlig überwunden hat, aber während eines Konzerts zusammen. Erst nach einem Monat kann sie Konzerte geben, die die Rückreise möglich machen. 1829 kehrt Anna nach Wien zurück. Sie gibt zwei Konzerte, lässt ein begeistertes Publikum zurück. Egal wo sie nun in den kommenden Jahren spielt, Wien, Warschau, Leipzig, Paris, überall sind die Kritiker begeistert.  Robert Schumann schreibt z. B. 1834 über ein Konzert in Leipzig:

„Ihr Clavierspiel ist, was es sein soll, ein Spielen mit dem Instrument. Die Masse versteht dies Geheimnis nicht. Je krasser die Noten, je heitrer das Gesicht: je toller die Sprünge, je sicherer der Anschlag. Im Ausgearbeiteten, Abgeründeten, vom einfachen Ton an bis zu gegen einander rollenden, blitzesschnellen Doppelgriffen, steht sie anderen Meistern gleich. An Sicherheit der Volubilität übertrifft sie vielleicht alle.“ (Neue Leipziger Zeitschrift für Musik“ vom 10. April 1834, S. 11).

Schumann spielt Anna aber gegen das damals gefeierte Wunderkind Clara Wieck (ab 1840 Clara Schumann) aus. Im Kern geht es um das Klischee französische Brillanz (Anna) vs. deutsche Tiefgründigkeit (Clara):

„Der Ton der Belleville schmeichelt dem Ohre, ohne mehr in Anspruch zu nehmen, der der Klara senkt sich ins Herz und spricht zum Gemüt. Jene ist dichtend, diese das Gedicht.“ (Robert Schumann: Gesammelte Schriften Bd. 2, Leipzig, 51914, S. 350).

1831 konzertiert Anna in England. In London lernt sie den englischen Geiger Antonio James Oury (1800-1883) kennen. Die beiden heiraten. Von nun an konzertiert Anna unter dem Namen Anna Caroline de Belleville-Oury. In den kommenden Jahrzehnten unternimmt sie mit ihrem Mann ausgedehnte Konzertreisen, z. B. auch nach Russland. In den Jahren 1836 und 1837 leben die beiden hauptsächlich in Paris. Dort lernen sie Chopin kennen. Der ist entzückt und komponiert für Anna den Walzer op. 70 Nr. 2 und schreibt ihr einen Brief:

„Was die kleine Valse angeht, die für Sie zu schreiben ich das Vergnügen hatte, behalten Sie sie, ich flehe Sie an, für sich. Ich möchte nicht, dass sie an die Öffentlichkeit gelangt. Aber was ich gerne wollte, das ist zuzuhören, wenn Sie sie spielen, Madame, und einer Ihrer eleganten Versammlungen beizuwohnen, in denen Sie unserer aller Meister so wunderbar interpretieren, die großen Komponisten wie Mozart, Beethoven und Hummel. Das Adagio von Hummel, das ich Sie vor einigen Jahren in Paris bei M. Erard spielen hörte, klingt mir immer noch in den Ohren und ich versichere Ihnen, dass es nur wenige Pianisten gibt, trotz der hiesigen großen Konzerte, die mich die Freude vergessen lassen könnten, dass ich Sie an jenem Abend hörte.“ (Brief vom 10. Dezember 1842)

1839 lässt sie sich in London nieder, konzertiert hauptsächlich in England, komponiert und unterrichtet als Professorin an der Royal Academy of Music. 1846 und 1847 unternimmt sie eine große Konzertreise nach Italien, wo sie sogar vom Papst empfangen und zum Ehrenmitglied der Accademia di Santa Caecilia ernannt wird. In den kommenden Jahren spielt sie fast nur in England und ab und zu in Paris. 1865 gibt sie ihr letztes Konzert in London, ausschließlich mit eigenen Werken.

Anna Caroline de Belleville-Oury hat über 200 Stücke komponiert. Die meisten ihrer Werke hat sie nach 1840 komponiert, die dann auch hauptsächlich in England erschienen sind, denn vorher war sie fast andauernd auf Reisen und hatte deswegen sehr wenig Zeit. Sie hat für den eigenen Konzertgebrauch komponiert und für den Salon bzw. das häusliche Klavierspiel. Das sind hauptsächlich für ihre Zeit typische Stücke: Fantasien und Variationen über bekannte Opernohrwürmer, Impromptus, Nocturnes, Mazurkas, Walzer, Sérénades, Souvenirs, Rêveries. So wie heute Stars unter ihrem Namen Merchandise verkaufen, hat Anna Caroline de Belleville-Oury Kompositionen verkauft. 1877 schreibt ein Rezensent über ihre Komposition „Consolation. Rêverie mélodieuse“ in der Zeitung The Musical Times:

„Obgleich sich Madame Oury nicht an Ausführende mit eher durchschnittlichen Fähigkeiten wendet, dabei schreibt sie stets anmutig, wird sich ihre ,Consolation‘ bald als eines ihrer beliebtesten Stücke erweisen. Die Themen sind anmutig und die Passage mit denen sie sie verziert sind gewählt und geschmackvoll.“ (The Musical Times, 01.09. 1877, S. 439).

Obwohl viele ihrer Kompositionen gedruckt wurden, müssen die allermeisten als verschollen gelten. Oft lassen sich nicht einmal ihre Titel herausfinden. Anna Caroline de Belleville-Oury geht es wie vielen Interpreten ihrer Zeit, die hauptsächlich Genrestücke komponiert haben. Sie und ihre Werke sind verschwunden im unendlich tiefen Abgrund der Geschichte. Sie lebt in Chopins Widmung als eine der größten Pianistinnen des 19. Jahrhunderts weiter. 1880 ist Anna Caroline de Belleville-Oury in München gestorben, wohin sie erst kurz vor ihrem Tod zurückgekehrt ist. Ihr Grab befindet im alten Südfriedhof in München.

Musik zum Artikel:

Ferdinand Ries: Klavierkonzert op. 55: https://www.youtube.com/watch?v=WlBZR9S2IrY

Ludwig van Beethoven: Klaviersonate op. 26: https://www.youtube.com/watch?v=PaBl6lhaFWY

Frédéric Chopin: Walzer op. 70/2: https://www.youtube.com/watch?v=8xGESptitIM

Noten von Kompositionen von Anna Caroline de Belleville-Oury: https://imslp.org/wiki/Category:Oury,_Anna_Caroline

Christoph Goldstein
Foto: https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Caroline_de_Belleville#/media/Datei:A_Kneisel_-_Anna_Caroline_Oury_(Lithographie).jpg

Garten findet Stadt

Dem Garten und dem Gärtnern können wir auf vielfältigste Weise begegnen. Einmal aktiv, wenn wir selbst Harke und Spaten in die Hand nehmen und in den Garten gehen. Und zweitens passiv, also als Konsumenten, etwa beim Spazierengehen durch öffentliche Parks oder beim Besuch von Gartenschauen. In den letzten Jahrzehnten sind viele Parks im Rahmen von Gartenschauen neu entstanden oder umgestaltet worden. Bereits im 19. Jahrhundert fanden die ersten Gartenbauausstellungen statt. Nach 1945 standen die Gartenbauausstellungen im Zeichen des städtebaulichen Wiederaufbaus.

Seit 1951 werden die Bundesgartenschauen (BuGa) im zweijährigen Turnus veranstaltet, die Internationalen Gartenbauausstellungen im zehnjährigen. Als erstes Bundesland organisierte Bayern eine Landesgartenschau. Das war 1980. Seither finden parallel zu den Bundes-, auch Landesgartenschauen statt. Neben Mannheim (BuGa) stehen 2023 fünf Landesgartenschauen zur Auswahl: in Höxter, Fulda, Bad Gandersheim, Freyung und Balingen. Die Gartenschauen haben sich im Laufe der Jahrzehnte zu Großveranstaltungen und zu Motoren der Stadtentwicklung entwickelt. Indem Gartenschauen Grün ins Grau bringen, fördern sie die Lebensqualität und sind zugleich Standortfaktor. Private Gärten und öffentliche Parks sind Sehnsuchts- und Rückzugsorte zugleich.

Häufig haben Gartenschauen innovative Gestaltungsideen und Bauten mit sich gebracht. Für Unmut sorgen manchmal die hohen Kosten für die Vorbereitung und Durchführung der Leistungsschauen, oder wenn Naturräume im Vorfeld solcher Schauen, etwa durch Trockenlegung von Feuchtwiesen, zerstört werden. Nachhaltig werden Gartenschauen durch ihren Effekt auf die Städtebauentwicklung sowie der Möglichkeit der Nachnutzung, etwa als Ort für Freizeit und Naherholung im Grünen. Der Landschaftsarchitekt und Gestalter des Münchner Olympiaparks, Günther Grzimek spricht von der „Besitzergreifung des Rasens“. Erst durch die aktive (Raum-) Nutzung werden öffentliche Parks und Gärten mit vielfältigem urbanem Leben verknüpft. Wie genau das aussieht, obliegt ein jedem von uns.

Cindy Drexl
Foto: Veronika Keglmaier

Belebung im Stadtviertel dank kreativer Planung

Stadtplanungsämter versuchen in der Regel am sogenannten „grünen Tisch“ Ordnung in das menschliche Chaos von bebauten Siedlungen und Stadtteilen zu bringen. Deshalb erstellen sie Bebauungspläne. Doch die Nagelprobe ist immer erst dann gegeben, wenn ein Investor versucht, seine Vorstellungen mit den aktuell geltenden Baunormen in Einklang zu bringen.

Ein Paradebeispiel ist das Projekt Jägerwirt im ehemaligen Gewerbe- und Arbeiterviertel Nikola in Landshut. Die Planung aus dem Jahr 2009 sah zwei drei- und zweistöckige Neubauten, fünf Großbäume und einen reizlosen Parkplatz für 12 (!) PKWs südlich des Bestandsgebäudes vor, das unter Denkmalschutz steht. Vor kurzem hat ein Münchner Architekt nach der viel gelobten Sanierung eines mittelalterlichen Holzblockbauses in der Pfettrachgasse das schräg gegenüberliegende Grundstück mit dem ehemaligen Jägerwirt erworben. Sein Ziel ist, eine Kombination aus Wohnen, Arbeiten und Genießen inmitten von denkmalgerecht sanierten Gemäuern. Dies wurde möglich durch eine Modifizierung der Ursprungsplanung: Der Innenhof hat jetzt mit drei Linden und einem Apfelbaum, einer kleinen Gartenfläche mit Gemüsehochbeet und nur sparsam gepflasterten Randzonen eine hohe Aufenthaltsqualität. Die Halbierung der Stellplätze und dafür ausreichend Stellfläche für Fahrrad- und Lastenräder dokumentieren den Bewusstseinswandel: Nicht das Auto dominiert den Freiraum, sondern die innerstädtische Lebensqualität für Natur und Mensch! Die komplette vorhandene Bausubstanz wird erhalten und umgebaut. Dafür gibt es keinen Abriss und Neubauten – wie noch 2009 geplant. Im Kontrast dazu steht die südlich angrenzend Neubebauung: eine Durchschnittsinvestoren-Architektur mit PKW-Wüste – ohne Baum, ohne bespielbare Freiflächen; trotzdem genehmigt und abgesegnet.

Das Beispiel zeigt: Baukultur ist zuvorderst vom jeweiligen Bauherrn oder von der Bauherrin abhängig. Geht es um maximalen Profit oder um einen Beitrag zur Baukultur, um einen Impuls, der ausstrahlen kann auf seine Umgebung? Die wiederbelebte Wirtschaft im Jägerwirt mit dem Namen „Il piccolo Cacciatore“, die vor kurzem samt geschmackvoll möbliertem Innenhof eröffnet hat oder das kleine kulturelle Zentrum in dem schräg gegenüberliegenden, mittelalterlichen Holzblockbau mit vielen verschiedenen Veranstaltungen („Zur Gastgeb“) verdeutlichen: Ein geglücktes Zusammenspiel von städtischen Behörden, Architekt samt Fachplanern und versierten Handwerkern ist möglich. So kann ein polyfunktionales kleines Zentrum inmitten eines reinen Wohngebietes entstehen, das fußläufig von der Nachbarschaft nutzbar ist.

Helmut Wartner
Foto: Peter Litvai