Wischen oder wissen?

Kind schreibt auf einer Schiefertafel in der historischen Schulstube des Freilichtmuseums Massing

Einfach übers Smartphone oder Tablet wischen – und die neue Nachricht erscheint am Touchscreen. Praktisch. Schnell. Mit einem Wisch. Und: Weg ist sie auch schon wieder. „Digitalisierung“, ein Schlagwort, das derzeit ständig in den Nachrichten auftaucht, lässt uns nicht mehr los. Die Digitalisierung verändert unser Leben wie kaum eine gesellschaftliche Entwicklung zuvor. Im Alltag schreiben immer weniger Menschen mit der Hand. Doch für besondere Anlässe greifen sie – anstatt E-Mails auf dem Laptop oder auf dem Handy tippen – zu Papier und Stift. Die eigene Schrift gehört zu unserer Identität, vermittelt Persönliches und Nachhaltigkeit.

Schreiben – diese Jahrtausende alte Kulturtechnik erschließen sich Schulanfänger in kleinen Schritten; in Bayern zuerst in Druckschrift, später in Schreibschrift. Am Ende der vierten Klasse sollen sie eine individuelle Handschrift gefunden haben, die sie flüssig und leserlich schreiben können. So steht es in den Bildungsstandards für die Grundschule.

Schreiben versetzt uns Menschen in die Lage, Wissen zu bewahren und Erfahrungen zu überliefern. Die Digitalisierung verändert jedoch auch das Lernen und das Schreibenlernen maßgeblich. In Finnland arbeiten beispielsweise bereits Grundschüler mit Tablet, erlernen das Schreiben auf der Tastatur.  Ihr Abitur absolvieren finnische Schüler am Laptop. Der Einsatz digitaler Medien im Schulunterricht wird seit Jahren auch in Deutschland heftig diskutiert. Das Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien an der Technischen Universität München hat 2017 im Auftrag der Kultusministerkonferenz 79 Studien ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis: Die Wirkung der digitale Materialien auf die Leistung davon ab, wie sie im Unterricht eingesetzt werden. Die erwünschte Wirkung digitaler Medien ist beispielsweise größer, wenn sie klassische Unterrichtsmaterialien nicht vollständig ersetzen. Erfolgversprechend sei, sie ergänzend zu analogen Methoden zu verwenden.

Ergebnisse mehrerer Studien bescheinigen zudem dem auf Papier Geschriebenen stärkere Nachhaltigkeit: Die US-Forscher Pam Mueller und Daniel Oppenheimer haben die Lernleistungen von Studierenden untersucht. Mit folgendem Resultat: Wenn sich die Probanden zum Inhalt verschiedener Lernvideos handschriftliche Notizen gemacht hatten, konnten sie das Gezeigte später deutlich besser wiedergeben als wenn sie ihre Aufzeichnungen mittels Laptop angefertigt hatten.

Alles, was wir mit einem Stift zu Papier bringen, behalten wir also stärker in Erinnerung. Darüber hinaus trainiert das Schreiben mit dem Stift zusätzlich zur Gedächtnisleistung auch Hände und Bewegungsabläufe. Aber dieses Training findet im Kindesalter immer weniger statt. Denn anstatt gemalt oder gebastelt wird immer mehr mit Laptop oder Smartphone gespielt. Dies zeigen auch jüngste Untersuchungsergebnisse aus den USA und Großbritannien: Sie besagen, dass immer mehr Kinder Schwierigkeiten hätten, Stifte richtig zu halten. Die dafür benötigte Fingermuskulatur würde teilweise ebenso fehlen wie die fürs Schreiben erforderliche Feinmotorik. Vielen Kindern falle es schwer, längere Texte zu verfassen, ohne dass ihnen der Arm oder die Hand wehtue.

Bei all den digitalen Nachrichten sollte also nicht weggewischt werden: Handschriftliche Aufzeichnungen legen den Grundstein, sie sind gut für Feinmotorik und Gedächtnis. Sie lassen Sachverhalte begreifen und nachhaltig Wissen festhalten. Sie vermitteln zudem Persönlichkeit, denn unsere Handschrift ist ein Ausdruck unserer Individualität, ein unverwechselbares Markenzeichen.

KSH
Bild: Freilichtmuseum Massing

Fastenzeit

Alle Jahre wieder beginnt am Aschermittwoch die Fastenzeit, in der sich Christen 40 Tage lang auf das Hochfest Ostern vorbereiten. Der Bibel nach fastete Jesus 40 Tage lang in der Wüste, bevor er seinen Leidensweg antrat. Ein symbolisches Nachahmen dieser „Durststrecke“ soll uns daran erinnern und in die österliche Festzeit einstimmen. Aber Fastenzeiten gibt es auch in anderen Religionen und Kulturen. Überall dienen sie dazu, Buße zu tun und sein Verhalten zu überdenken.

Früher waren die Fastenregeln streng. Entsprechend fröhlich und genussreich feierte man die Faschingstage vor dem Aschermittwoch. Das Wort „fasten“ bedeutet sinngemäß „festhalten“ oder „fest bleiben“. Somit geht es beim Fasten um mehr als Enthaltsamkeit von Fleisch, Süßigkeiten oder Alkohol. Wer fastet, übt Verzicht und konzentriert sich auf Wesentliches, sei es aus religiösen oder gesundheitlichen Gründen. Wer sich nicht (mehr) an religiöse Gebote und die Termine des Kirchenjahres halten mag, wählt seine ganz persönliche Fastenzeit. Das Prinzip bleibt gleich: Nur, wer auf Liebgewonnenes, Wertgeschätztes und alltäglich Gebrauchtes verzichtet, übt echte Enthaltsamkeit. Darum bringt die Moderne neue Formen des Fastens hervor: Kleider fasten, Handy fasten etc.

Im religiösen Kontext kennen Katholiken die Tradition der „Fastensuppe“. In den Pfarreien werden einfache Speisen zubereitet und gegessen. Der Erlös unterstützt Projekte in Entwicklungsländern. Manch einer mag sich daran stören, dass durch ein mehrgängiges gemeinschaftliches Mahl der Hunger in der Welt gelindert werden soll. Aber vielleicht heiligt hier tatsächlich der Zweck die Mittel?

MS/CLL
Illustration: Anja Just

Das Erbe eines Lumpensammlers

Buchmalerei: Darstellung der Dreifaltigkeit

1914 erwarb der Kunstmaler und Heimatkundler Hugo von Preen aus Braunau am Inn zwei Liederhandschriften des späten 18. Jahrhunderts von unbekannter Hand. Sie wurden nach ihrem Auffindungsort als Stubenberger Handschriften bezeichnet. Von wem er sie bekam, ist nicht dokumentiert. Wir wissen lediglich, dass er sie 1930 für 700 Mark an die Bayerische Staatsbibliothek veräußerte, wo sie unter den Signaturen Cgm 7340 für das Gesänger Buch und Cgm 7341 für das Geistliche Zeitten Buch in der Handschriftenabteilung verwahrt werden. Um die Entstehungs- und Auffindungsgeschichte der gut 1000 Seiten und über 800 Liedtexte umfassenden, liebevoll mit Bildern verzierten Bände rankten sich seitdem Mythen.

Erst vor wenigen Jahren konnte schließlich der Verfasser beider Handschriften identifiziert werden: Es handelt sich um Phillipp Lenglachner (geb. 1769 in Weng im Innkreis, gest. 1823 in Stubenberg), einen Hadern- oder Lumpensammler. Gebrauchte Hadern aus Baumwolle, Leinen, Hanf oder Flachs wurden in jener Zeit zur Herstellung von Papier verwendet und waren daher in den Papiermühlen ein gefragter Rohstoff. Die Bezeichnung „Haderlump“ für die oft lauthals durch die Dörfer ziehenden Lumpensammler hat sich bis heute erhalten.

Vermutlich trug Lenglachner die Liedtexte auf den Streifzügen durch das Rottal und angrenzende Innviertel zusammen. Durch seinen Beruf kam er viel herum, und da er offenbar eine gewisse Bildung besaß, lesen und schreiben konnte, wusste er die zahlreichen Eindrücke schriftlich festzuhalten. Ein wissenschaftliches Interesse wird er dabei kaum verfolgt haben, wohl aber, die Texte zum eigenen Gebrauch zu bewahren. Neben geistlichen und weltlichen Liedtexten enthalten die Handschriften auch Gebete zu den Festzeiten des Kirchenjahres, Prosatexte, Verse, Rätsel und volksmedizinische Rezepte.

Zutage kam die Person Lenglachners durch Forschungen des Germanisten Thorsten Fromberg aus Kiel. Er befasste sich in seiner Dissertation mit dem so betitelten Schreÿbbuech, einer dritten, signierten Handschrift, mithilfe der die anderen beiden durch Schriftvergleich demselben Verfasser zugeordnet werden konnten.

Nun liegt nach vielen Jahren Arbeit die Übertragung der beiden Liederhandschriften aus Stubenberg vollständig als Edition in drei Bänden vor: Sie umfasst das Geistliche Zeitten Buch sowie das Gesänger Buch in zwei Teilbänden für die Geistlichen und die Weltlichen Gesänger. Erschienen ist sie in der Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München (Tel. 089 515561-3, post@volkskunde.badw.de).

Seit langem schon beschäftigt sich der Gangkofener Heimatforscher Willibald Ernst mit den kostbaren Handschriften. Er hat die Texte, die in heute nicht mehr gebräuchlicher und zudem wegen gewisser Eigenheiten schwer leserlicher Kurrentschrift verfasst sind, in mühevoller Kleinarbeit transkribiert. Dank ihm ist eine der größten und bedeutendsten Quellen dieser Art in Bayern nun allen zugänglich.

Wer einige der Texte heute noch dem ursprünglichen Zweck entsprechend nutzen möchte, dem sei eine praktische Singausgabe ans Herz gelegt. Die Publikation Geistliche Lieder aus den Stubenberger Handschriften, erschienen beim Kulturreferat des Bezirks Niederbayern (Tel. 0871 97512-730, kultur@bezirk-niederbayern.de), umfasst drei Bände und deckt thematisch den gesamten Kirchenjahreskreis ab.

PhO

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr?

Nahaufnahme Harmonikaspieler

Längst ist es kein Geheimnis mehr, wie sehr Musik die Entwicklung des Menschen fördert. Sie lässt die Verbindungen zwischen den Nervenzellen beider Gehirnhälften besser wachsen, fördert Konzentration und Kommunikation. Dabei, so das Ergebnis wissenschaftlicher Studien, ist es besonders wichtig, selbst aktiv zu werden, zu singen oder ein Musikinstrument zu spielen. Langzeitstudien an Grundschülern zeigen, dass die Kinder bei einer musikalischen Betätigung von wenigen Wochenstunden ihre Intelligenzleistungen, v.a. das räumliche Vorstellungsvermögen, verbessern, dass sie aufnahmefähiger, sozial kompetenter und selbstbewusster auftreten. Mancherlei Dinge, die musikalischer Betätigung zugeschrieben werden, erscheinen durchaus verwunderlich: Sie schütte Glückshormone aus, beruhige Babys und steigere sogar die Milchproduktion von Kühen.

Viele Menschen verspüren in der Lebensmitte oder im Rentenalter den verstärkten Wunsch nach musikalischer Aktivität. Ihre Beweggründe sind unterschiedlich: Da gibt es die langjährige Sehnsucht, ein Instrument zu spielen, wenn es in der Kindheit nicht erlaubt wurde. Auch die Muße spielt eine Rolle, die während eines Alltags gefüllt mit Arbeit und Kindererziehung zu kurz kam. Ebenso wird der Wunsch nach Gemeinschaft genannt, wenn man im Ensemble zum Gelingen eines Ganzen beitragen kann und miteinander ein Musikstück zum Klingen bringt. Den Spätbeginnenden kommt zudem die Gelassenheit zugute, die man im Alter entwickelt. Man lernt zur eigenen Freude, muss sich nicht mehr beweisen und es auch nicht zur Perfektion bringen.

Während gerade an Grund-, Haupt- und Mittelschulen der Ausfall zahlreicher Musikstunden zu beklagen ist, reagieren Musikschulen und Institutionen der Musikpflege auf die Nachfrage seitens der älteren Generation: Freizeitangebote mit Volksmusik- und Klassikseminaren richten sich an Laienmusiker. Geübte Referenten schaffen es dabei, jede Stufe des Könnens so in eine Gruppe zu integrieren, dass jeder seine musikalische Rolle findet. Ebenso werden freie Spielkurse angeboten, denen man sich ganz zwanglos anschließen kann. Durch die Ensembleangebote werden Hemmschwellen überwunden, denn in der Gruppe richtet sich der Fokus nicht auf den Einzelspieler. Im Vordergrund stehen vielmehr der Gesamtklang und das Gruppenerlebnis. Auch der Bezirk Niederbayern knüpft mit seinen Angeboten daran an: Die Musizierreihe „Spiel mit!“ lädt dazu ein, einen Abend lang jeweils eine volksmusikalische Gattung aus regionaler Überlieferung – z.B. Zwiefache, Ländler oder Arien – kennenzulernen. Jeder Instrumentalist kann daran teilnehmen, auch ohne volksmusikalische Vorkenntnisse. Ebenso plant die Volksmusikakademie in Bayern, die derzeit in Freyung entsteht, interessante Angebote, die auch Neueinsteiger am Instrument zum gemeinsamen Musizieren einladen.

Auch spätberufen kann man also getrost zur Steirischen oder Gitarre greifen. Mit musikalischer Aktivität lassen sich zwar keine besseren Menschen schaffen, sicher jedoch Eigenschaften und Begabungen vertiefen, die schon angelegt sind. Und Musizieren macht Spaß – die eingangs erwähnte These von den Glückshormonen wird jeder bestätigen, der sich musikalisch betätigt. Hans lernt zur eigenen Freude also sehr wohl, was Hänschen vielleicht versäumt hat!

 

VK

Rosen, Tulpen, Nelken…

Der heilige Valentin lebte um 270 als Priester und Mönch in Rom. Der Legende nach schenkte er Menschen, die bei ihm Rat und Hilfe suchten, Blumen aus seinem Garten. Er traute Liebespaare nach christlichem Zeremoniell, obwohl der römische Kaiser dies bei Todesstrafe verboten hatte. Deshalb wurde Valentin enthauptet und fortan als Märtyrer und Schutzheiliger der Liebenden verehrt.

Bereits im Mittelalter überbrachten heiratswillige Männer ihren Liebsten am 14. Februar, dem Valentinstag, Blumen oder kleine Geschenke. Im 19. Jahrhundert war es in England und Amerika üblich, Valentinspostkarten zu verschicken. Bei uns wurde der Valentinsbrauch nach dem Zweiten Weltkrieg populär. Soldaten, die auf dem europäischen Festland stationiert waren, brachten diese Tradition nach Deutschland. Seither ist der Valentinstag neben dem Muttertag und dem Allerheiligenfest zu einem der Hauptgeschäftstage für Gärtnereien und Blumenläden geworden. Der Heilige wurde 1970 aus dem offiziellen kirchlichen Kalender gestrichen, doch die weltlichen Traditionen werden weiterhin gepflegt.

MS/CLL
Illustration: Anja Just

Katholisch-närrisch und paramilitärisch

blau-gelb gekleideter Narr mit Narrenkappe

Der Fasching oder Karneval mit seinen fröhlichen Bräuchen stellt eine Ausnahmezeit dar. Faschingsumzüge, Prunksitzungen und Maskenbälle sind ausschließlich dieser sogenannten „Fünften Jahreszeit“ vorbehalten. Wer würde aber vermuten, dass hinter dem vordergründigen Unsinn viel Symbolik steckt?  Und wer käme gar auf die Idee, der Fasching wäre ein von der katholischen Kirche gefördertes Vergnügen?

Doch warum entpuppen sich ausgerechnet Zentren der katholischen Welt wie Venedig, Mainz, Köln, München oder Rio de Janeiro als Karnevalshochburgen? Tatsächlich sind die Motive der Fastnachtsbräuche in christlicher Zeit zu finden. Die Kirche hatte nämlich erkannt: Ausgelassenheit, Tanz, Spiel und Maskerade, Ess- und Trinklust vor dem gesetzten Verzicht der Buß- und Fastenzeit waren berechtigte Verlangen, die befriedigt werden mussten. Benennungen wie „Fasching“ oder „Karneval“ weisen darauf hin: Das mittelhochdeutsche „vastschanc“ bezeichnet den Ausschank vor der Fastenzeit, das lateinischen „Carne vale“ heißt „Fleisch, lebe wohl!“

Aber warum herrscht in Fasching und Karneval kurzzeitig Narretei? Dafür lieferte die „Zwei-Welten-Lehre“ des Hl. Augustinus die Vorlage: Er unterschied zwischen der irdisch-vergänglichen Welt mit ihren Lastern, für das einfache Volk symbolisch dargestellt als närrische Zeit, und einer überirdisch-ewigen, erreichbar durch Bußfertigkeit und Abstinenz.

Daraus erschließt sich auch die Schlüsselfigur des Faschings, der Narr: Dieser hat das verheißene Paradies aus dem Blick verloren. In seiner Torheit sitzt er dem Vergänglichen, einem vorübergehenden närrischen Reich, auf.
Ganz wesentlich zum Fasching gehört die Maskerade. Hierin scheinen alte Glaubensvorstellungen auf. Teufel und Hexen versinnbildlichen die Verführer der Welt. Neben Narrenkönigen, -prinzen und Hofstaat als Herrscher treten die Bürger dieser verkehrten Welt in Narrenkostümen auf. Ihre „Fehler“ offenbaren sich in farblich zweigeteilten Kostümen. „Sünder“ treten als Befleckte in Fleckengewändern auf. Maskiert als Schwarze, Indianer, Türken oder Chinesen begegnen uns im Fasching jene Ethnien, die in der christlichen Geschichte abfällig als Heiden bezeichnet wurden.

Die Zehn Gebote, die im Christentum den verbindlichen Wertemaßstab vorgeben, sind in der flüchtigen Narrenwelt außer Kraft gesetzt. Die Zahl Elf ist infolgedessen zur Zahl der Narren geworden, weshalb der Beginn der närrischen Zeit am 11.11. um 11.11 Uhr ausgerufen wird.

Jüngeren Ursprungs als die schwäbisch-alemannische Fastnacht und der baierisch-österreichische Fasching ist der rheinische Karneval. Er etablierte sich im 19. Jahrhundert als Spott auf die napoleonische und preußische Besatzung der rheinischen Gebiete. Dies erklärt die Gardeuniformen als Faschingskostüme, Marschmusik, Prinzengarde wie überhaupt alles pseudomilitärische Zeremoniell. Der Elferrat als Karnevalsparlament spielt auf den Jakobinerrat der Französischen Revolution an. Höhepunkte des rheinischen Karnevals stellen neben den Prunksitzungen die großen Faschingsumzüge dar. Diese beziehen ihre Vorbilder wiederum aus der Zeit der Gegenreformation. Denn bereits die Jesuiten erlaubten ihren Studenten am Faschingssonntag den Umzug mit Schlitten, auf denen die Schwächen der Welt kritisch dargestellt werden durften. Helau, wer hätte das gedacht!?

MS

Alternative Buildings

Renoviertes Waldlerhaus im Schnee

Hört ihr Leut‘ und lasst euch sagen, eine Ritterburg soll im Zwieseler Land entstehen! Der Nachbau einer Burg aus dem 11. Jahrhundert ist die grandiose Idee eines Planers, der damit ein deutschlandweit einzigartiges Projekt in den Wald stellen möchte. Eine mittelalterliche Burg mit Schenke, Restaurant, Rittersaal und Gewölbekeller. Die „Burg Rothberg“ soll auf dem Kellerberg bei Lindberg thronen. Das wird grandios! Gigantisch! Vor unseren Augen entsteht die großartigste Burg, die je gebaut wurde! Die „neue mittelalterliche“ Burg soll mit Naturstein und Holz verblendet werden, damit sie „echt alt“ aussieht, ein „alternative castle“. Ein Handwerkerdorf und eine Eventarena werden mittelalterliches Lebensgefühl vermitteln. Der Natur- und Erlebnispark mit angelegten Wanderwegen auf einem Areal von rund 80 000 Quadratmetern – eine Größe von rund elf Fußballfeldern – soll Natur- und Entschleunigungstourismus vereinen. Hier werden „alternative facts“ in die Tat umgesetzt.

Im Zwieseler Land regt sich heftiger Widerstand. Die Bewohner der anliegenden Rotkotsiedlung fürchten Verkehrsbelästigung und Umweltzerstörung. Zudem gibt es auf dem Kellerberg ein Landschaftsschutzgebiet und ein ehemaliges Bergwerk, in dem seltene Fledermäuse hausen. Derart kleine Tiere haben schon ganz andere Planungen verhindert.

Architektur ist Ausdruck von Kultur, ist Heimat. Wo man nicht mehr unterscheidet zwischen „echt alt“ und „auf alt gemacht“, geht Identität verloren. Gebäude bestimmen den Ortscharakter, neue Gebäude verändern die Landschaft. Wer mit offenen Augen durch die Gegend wandert, findet alte Höfe und Häuser, Burgen und Dörfer mit mittelalterlicher Substanz. Der Bayerische Wald braucht keine Kulissenarchitektur, er hat – immer noch – Bauten vorzuweisen, die von der Heimat und ihrer Geschichte Zeugnis ablegen. Mit Vorstellungskraft, Mut und Phantasie lassen sich diese echten alten Häuser wieder bewohnbar machen und bieten ein unvergleichliches Wohngefühl. Ihre Patina ist unersetzlich, sie haben eine Seele und vermitteln Heimat. Mittlerweile gibt es Vorreiter.  Einige coole Bauherren haben sich in das Abenteuer der Sanierung gestürzt und es nicht bereut. Diese gelungenen Beispiele sind beeindruckend und zur Nachahmung empfohlen.

Der „Waidler“ darf seinen eigenen Werten gerne mehr vertrauen. Der Nationalpark Bayerischer Wald mit echter Wildnis liegt vor der Haustür, sein Potential ist längst noch nicht ausgeschöpft. Natur, Tiere, Wildnis bieten Erholung und Entschleunigung pur. Wandern, Radeln, Reiten, Skifahren und eine gute Gastronomie, das ist sanfter Tourismus, der Entspannung schenkt. Hier gibt’s noch viel zu tun. Mittelalterfans treffen sich im Bayerischen Wald schon seit Jahren zu Gelagen, sie campen in Zelten, baden im Freien, tragen Kämpfe aus und kochen am offenen Feuer. Sie brauchen keine schicke Burg, sie wollen keine „alternative culture“, sie wollen Erlebnis hautnah, echt und ohne Komfort. Eine nachgebaute Ritterburg kann das nie bieten.

Ines Kohl

Kleider machen Leute

Szenenbild Fliegender Holländer als Pirat

Dass Kleider Leute machen wissen wir nicht erst seit der Novelle des Schweizers Gottfried Keller von 1874. Denn kaum ein Phänomen spiegelt so sehr Individualität und Zeitgeist wider wie unsere Kleidung. Sie verlangt von  jedem Einzelnen alltägliche Entscheidungen, kennzeichnet Zugehörigkeiten oder hebt heraus. Gesellschaftliche Konventionen prägen unser Kleidungsverhalten, weil wir glauben (wollen), dass auf den ersten Blick zu erkennen sei, wen wir vor uns haben.
In zügellosen Zeiten wie dem Fasching sind diese Konventionen seit jeher ausgesetzt. Jeder kann und darf beliebige Spielarten seiner Persönlichkeit zur Schau tragen oder in eine Rolle schlüpfen. Von uniform bis originell ist alles drin. Aus dem Nadelstreifenanzug wird ein schriller Aufzug, aus der grauen Masse ein buntes Durcheinander. Die Welt steht Kopf, der Bischof wird zum Bettelmann, der Handwerksbursch zum König, Frau Nachbarin zum Cowboy Jim.

Die spielerische Leichtigkeit im Umgang mit Rollenbildern, die wir uns einmal im Jahr leisten, ist in den Kinderzimmern der Welt alltägliche Wirklichkeit. Mit wenigen Kleidungsstücken und Requisiten, dafür mit umso mehr Phantasie verwandeln sich Kinder leidenschaftlich gern in wilde Tiere, Burgfräulein und Ritter, Monster und feine Damen, in Ninjas, Feen und Superhelden. Die Schleife im Haar macht zur Prinzessin, der Karton auf dem Kopf zum Astronauten und das laute Geschrei zum wilden Tiger.

Mit zunehmendem Alter schwächelt die Vorstellungskraft etwas. Die Flucht in andere Zeiten und Welten ist dennoch willkommene Abwechslung zum grauen Alltag. Aufwendige Schauspiel- und Musicalproduktionen erfreuen sich daher ungebrochener Beliebtheit und sind Highlight mancher Städtereise. Aber auch die zahlreichen Laienspiel- und Amateurtheaterbühnen – allein ca. 350 in Niederbayern – erfreuen sich eines treuen Publikums und bereichern die Kulturszene alljährlich mit einem abwechslungsreichen, sehenswerten Programm. Ohne Kostüme, Maske und Requisiten geht auch hier nichts. Der kindlichen Lust am Rollenspiel und Verkleiden darf auf der Bühne ganzjährig gefrönt werden.

Seit zwanzig Jahren unterstützt der Bezirk Niederbayern diese Kulturtradition tatkräftig: Im Kostüm- und Requisitenfundus des Laienspielzentrums auf dem Gelände des Bezirksklinikums Mainkofen stehen niederbayerischen Theatergruppen über 1000 Einzelteile kostenfrei zur Verfügung. Für leidenschaftliche Schauspieler und Verkleidungskünstler birgt der Fundus viele Schätze: Von Abendkleid bis Zauberstab, von Zepter bis Abakus. Mehr Informationen auf den Laienspiel-Seiten des Bezirks.

Christine Lorenz-Lossin

Shabby Chic® oder Von den Widersprüchlichkeiten des Alltags

Ein Stapel alter Fransen-Tücher

Im kalifornischen Santa Monica, am Pazifikstrand vor L.A., steht die Wiege des Shabby Chic-Trends, den Lifestyle-Magazine und Einrichtungsberater längst in alle Welt getragen haben. 1989 eröffnete die englische Stylistin Rachel Ashwell hier einen Laden, der mit Flohmarktstücken handelte. Inzwischen ist sie Teilhaberin mehrerer Labels und das Oxymoron Shabby Chic als Warenzeichen geschützt.
Shabby Chic (von engl. shabby = schäbig, heruntergekommen) meint einen Einrichtungsstil, bei dem Erbstücke, Flohmarktkäufe und Selbstgemachtes ungeniert gemischt werden. Sichtbare Gebrauchsspuren sind dabei kein Makel, sondern gehören genauso zum Konzept wie rostige Scharniere, schlieriges Glas und abblätternder Lack.
Die im Angebot von Online-Portalen und Möbelhäusern zahlreich zu findenden antik anmutenden Möbel und Gegenstände stammen – aufgrund der großen Nachfrage – aber längst nicht mehr vom Flohmarkt oder Omas Speicher, sondern aus Fabriken und Industriehallen, wo Oberflächen und Bezüge einem künstlichen Alterungsprozess unterzogen werden. Dabei soll es sich bei Shabby Chic, wie die einschlägige Literatur beteuert, nicht um wertlosen Plunder handeln, sondern um Möbel, die ihre eigene Geschichte erzählen. Ach ja?!

Was in den 1980er Jahren als Gegenbewegung zur kostspieligen Innenausstattung der oberen Mittelklasse-Landhäuser in England entstand, hat über das hippe Santa Monica als massentauglicher Trend zurück nach Europa gefunden. Shabby ist in! Ob als Stilmöbel, patinierter Schmuck oder Jeans im used look – Gebrauchsspuren suggerieren uns Einzigartigkeit, Charakter und Geschichte. Mit Sorgfalt ausgesuchte Accessoires werden scheinbar beliebig zusammengestellt. Was zählt ist Gemütlichkeit statt Schlichtheit, Üppigkeit statt Purismus. Alt darf es aussehen, aber praktisch und bequem muss es sein – und Geld spielt keine Rolle, wo Geschmack und Individualität unter Beweis gestellt werden wollen.
Das samtige Sofa abgewetzt wie von Generationen gemütlicher Kaffeekränzchen, aber mit modernster Federkerntechnik; die Häkeldeckchen wie handgemacht, aber ohne Stockflecken; die Rüschenbluse wie aus Omas Wäscheschrank, aber ohne Mottenkugelduft; die Boots wie nach tagelangem Viehtrieb, aber zu teuer für Regenwetter – Shabby Chic ist und bleibt ein Widerspruch in sich.

Leider stimmt auch nicht, was uns als Mehrwert dieses Trends verkauft wird: Die Wertschätzung von historisch Überliefertem wird nicht größer, weil wir uns mit stilvollen Imitaten umgeben. Vielmehr verliert sich der Blick für die wahren Schätze immer mehr, je kunstvoller die Attrappen werden. Wie sonst ist zu erklären, dass im Zwieseler Land ein Erlebnispark mit künstlichem Mittelalterflair entstehen soll, während ringsum historische Denkmäler verfallen?

Christine Lorenz-Lossin

Ort schafft Mitte

Spielplatz in Johannesbrunn, Landkreis Landshut

Auf dem Spielplatz in Johannesbrunn herrscht reges Leben. Kleine und größere Kinder tollen auf den hölzernen Geräten und Bauten herum, Mütter und Väter plaudern oder picknicken an den verstreuten Sitzgruppen, in den Kinderwägen liegen brabbelnd die Kleinsten. Mit dem 2009 eingeweihten Spielplatz neben der Pfarrkirche hat sich der Ort Johannesbrunn eine neue Mitte geschaffen. Es brauchte dazu keine Millionen aus öffentlichen Fördertöpfen, keinen Stararchitekten, keine Riesenchristus- oder Konzerthaus-Hybris aus der elitären Geisteswelt selbsternannter Kulturbotschafter. Der kreative Kopf des Projektes ist der seit 2010 ortsansässige Bildhauer Örni Poschmann. Mitgewirkt aber haben sie alle, die jungen Familien, Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde. Sie waren von Beginn an in den kreativen Prozess eingebunden, durften den Platz selbst – ideell und materiell – mitgestalten. So kann es auch gehen. Gemeinsam, alle zusammen.

Szenenwechsel. Ich bin zu Gast in der neuen Heimstatt des Künstlers und seiner Familie, einer alten Hofstelle am Ortsrand von Johannesbrunn. 2010 hat es sie von Wendeldorf bei Aham, wo sie seit 1996 wohnten, hierher verschlagen. Der Bildhauer führt mich durch das neu erbaute Atelierhaus im Garten hinter dem Hof, wo er neben einer großzügigen Werkhalle und mehreren Arbeitsräumen auch Schlaf- und Gemeinschaftsräume eingerichtet hat. Der Bau soll nicht nur ihm und seiner Frau, der Künstlerin Judith Lipfert, als Atelier dienen, sondern zugleich Freunden, Künstlern und Handwerkern eine Wohn- und Werkstätte sein. Momentan sind zwei Handwerksgesellen auf der Walz zu Gast. Der eine sitzt gerade in der Stube, hilft Poschmanns Ältestem bei den Hausaufgaben, der andere sonnt sich draußen auf der Türschwelle. Demnächst werden weitere eintreffen, um für einige Tage gemeinsam im Atelierhaus zu wohnen und zu arbeiten.

Die Eingangs-Szenerie, die ich vorfinde, ist bezeichnend für Poschmann: als Mensch, aber auch als Künstler. Er selbst versteht sich mehr als Handwerker. Auch das Atelierhaus ist sein Werk. 1965 in Berlin geboren, machte er von 1986 bis 1989 eine Bildhauerlehre. Es schlossen sich Wanderjahre im In- und Ausland an, die 1992 bis 1994 in eine Zimmererlehre mündeten. Noch heute pflegt er regen Kontakt zu den Handwerksgesellen von damals. Das Haus der Familie Lipfert-Poschmann ist ein offenes Haus.

Diese Haltung setzt sich im Werk fort. Denn Kunst ist bei Poschmann vor allem Mittel und Ausdruck von Kommunikation. Bei vielen Holzobjekten für den öffentlichen Raum steht das spielerische Gemeinschaftserlebnis im Vordergrund. Auf einem großen Mühlespiel bilden die Kinder selbst die Mühlensteine. Aus der Interaktion im Spiel entsteht Gruppendynamik; soziales Erleben und Erlernen wird auf diese Weise gefördert. Dasselbe gilt auch für andere Spielobjekte, wie sie Poschmann mittlerweile für viele Auftraggeber – häufig Kindergärten und Horte – geschaffen hat: die offene Kaufladentheke ebenso wie der Schlangenturm, der anhand von Tierskulpturen den Naturkreislauf veranschaulicht. Gäbe es für Bildende Kunst ähnlich wie für Filme das Prädikat „besonders wertvoll“, Poschmanns Werke hätten es verdient.

All das zeigt uns, dass die Kunst von Örni Poschmann nicht für sich alleine stehen will. Ihr Werden ist kein isolierter Akt im Atelier; ihr Sein braucht die Umgebung, die Natur und den Menschen als Resonanzraum. Und wenn sie wie beim Johannesbrunner Spielplatz konkret gemeinschaftsstiftend wirkt, findet dieser Wesenszug seine ideale Erfüllung. Und unsere Welt ist um einen heimatlichen Ort reicher geworden.

Philipp Ortmeier