Eine der schönste Bahnstrecken Bayerns

Von München nach Gotteszell ist es weit; sehr weit. Und so passiert es schnell, dass man die Menschen dort vergisst. Manchmal ist das heute noch so.
Als die Eisenbahn nach Bayern gekommen ist, hat man als allererstes an die großen Städte gedacht: Nürnberg, Regensburg, München und Augsburg; erst ganz spät an Niederbayern — und noch viel später an Gotteszell. Die erste Strecke, die in den Bayerischen Wald hineinführt, gibt es seit 1877. Das ist die Strecke von Plattling nach Bayerisch Eisenstein. Etwas länger hat es mit der Verbindung von Gotteszell nach Viechtach gedauert. Sie gibt es seit 1890.
Aber fast wäre es dazu gar nicht gekommen! Mitte des 19. Jahrhunderts waren die bayerischen Kassen klamm und viel lieber hätte der König mehr Geld für Soldaten ausgegeben, als es in Schienen und Lokomotiven zu stecken.
Doch die Niederbayern wollten nicht länger abgehängt sein. Schnell gründeten sie mit der Erlaubnis und der Unterstützung des Königs eine Aktiengesellschaft. Mit dabei waren Geschäftsleute, Fabrikanten und Banken. Als erstes ist die Strecke von München nach Landshut fertig geworden. Das war im Jahr 1858. Danach waren Straubing und Passau an der Reihe. Jetzt murrten aber die Waldler. Alle fuhren mit dem Zug, bloß sie noch mit dem Ochsenwagen.
Eine Strecke durch den Bayerischen Wald bis nach Böhmen? „Viel zu teuer! Viel zu kompliziert! Und überhaupt: Des brauchts ned!“, so die Münchner Beamten. Doch die Waldler haben sich zusammengerauft und sind mit einem Plan in der Tasche nach München gefahren. In den Zeitungen konnte man am nächsten Tag lesen:
„[Dieser Plan] überrascht durch eine Ausarbeitung aller Details in einem Maße, dass man sagen muss: von den Herren im hinteren Wald können die Herren in München lernen, wie man so etwas macht.“
In einer anderen Zeitung heißt es, die Waldler hätten einfach die „lautesten Stimmen“ gehabt. Wie dem auch sei, ihr Wunsch ging in Erfüllung! Im Jahr 1873 ging es endlich los!
Fast wäre das Unternehmen doch noch gescheitert. Schuld war nicht der Wald, sondern eine der größten Wirtschaftskrisen des Jahrhunderts: die Gründerkrise. Der Sieg über Frankreich und die Gründung des Deutschen Reichs 1871 hatten den Markt und Spekulanten derart in Wallung versetzt, dass einige Jahre später nichts anderes als eine Explosion übrigblieb. Auch die Aktiengesellschaft, die den Bau der Waldbahn von Plattling nach Bayerisch Eisenstein finanzierte, war derart in Bedrängnis, dass nichts anderes übrigblieb, als sie zu verstaatlichen.
Die Strecke von Gotteszell nach Viechtach, die einige Jahre später in Angriff genommen wurde, führt durch eine der schönsten Flecken Erde, die es in Niederbayern gibt. Dieses Jahr im November feiert dieser Teil der Waldbahn seinen 130. Geburtstag.
Heute freuen sich allerdings nicht mehr die Unternehmer über diese Strecke, denn der Güterverkehr ist längst eingestellt, sondern die Wanderer, Fahrradfahrer, Pendler, Senioren und Kinobesucher. Kinobesucher? Ja, richtig: Für Besucher des Viechtacher Kinos ist die Fahrt mit der Waldbahn kostenlos. Noch — denn ginge es nach dem Willen der Münchner Ministerin, dann wäre im September 2021 Schluss mit der Waldbahn. Auf diese Ankündigung im Sommer 2020 prasselte ein Gewitter erboster Aufschreie nieder. Mittlerweile hat die Ministerin zurückgerudert.
Das grundsätzliche Problem aber bleibt: Zu oft werden die Menschen vergessen, die von München weit, weit weg sind. Das war schon vor der Eisenbahn so und auch heute ist es noch so.
Christoph Goldstein
Foto: Jochen Maier
Vom Wert eines Baumes

Den Forstwirt interessiert der Holzwert, den Biologen und Naturschützer der ökologische Wert. Und viele Laien schätzen ganz einfach die Schönheit eines Baumes, die Früchte, die er trägt und den Schatten, den er spendet.
Gerade im Herbst, wenn die Blätter fallen, scheiden sich die Geister: für die einen ist es „Dreck“, der mit Laubbläsern möglichst lautstark beseitigt gehört. Die anderen schwärmen von der malerischen Blattfärbung und sehen den Laubfall als Zeichen für den natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen.
Immer mehr rücken Bäume in Zeiten des Klimawandels auch als Staubfänger, Windschützer, Temperatursenker, Kohlendioxidspeicher, Sauerstoffproduzenten oder Niederschlagssammler ins Bewusstsein: Eine 100jährige Buche mit ungefähr 600.000 Blättern kann ca. 3,5 Tonnen CO² speichern. Dabei verdunstet sie rund 400 Liter Wasser täglich. Um diesen Baum zu ersetzen, müssten 2.000 Jungbäume mit jeweils 1,5 m³ Kronenvolumen und einem Gesamtpreis von 150.000 Euro gesetzt werden.
Gerade alte und kranke Bäume haben einen großen Wert: Sie sind Wohnstätte für Vögel, Säugetiere, Insekten oder Pilze. Insekten ernähren sich von Totholz und bieten so wieder die Nahrungsgrundlage für Vögel.
Doch welchen Geldwert haben solche Habitatbäume? Wieviel davon sollen wir uns leisten? Unsere 100jährige Buche mit rund 2,5 Festmetern Stammholz hat einen Holzwert von rund 500 Euro. Nach anderen Bewertungsmethoden hat die Buche einen viel, viel höheren Gegenwert!
Wie das? Unsere Buche produziert im Jahr 4.600 Liter Sauerstoff – davon könnten 13 Menschen ohne teure technische Sauerstoffversorgung überleben. Mit einer Blattfläche von 15.000 m² filtert die Buche dabei 36.000 m³ Luft. Neueste Untersuchungen haben ergeben, dass gerade in Städten und Landschaften mit hoher Luftverschmutzung vermehrt Corona-Todesfälle aufgetreten sind.
Wer selber etwas für Zukunftsbäume in unserem Land tun will, kann sich z.B. an der aktuellen Crowd-Funding-Aktion der Gemeinschaft Hof Lebensberg beteiligen. Dort entsteht ein Agroforstsystem mit 30.000 Jungbäumen und Sträuchern.
https://www.startnext.com/gemeinsam-zukunft-pflanzen
Helmut Wartner
Foto: Helmut Wartner
Klasse statt Masse

Corona nervt, nicht wahr? Unabhängig von Sinnhaftigkeit und individueller Betroffenheit greifen die Versuche, die Pandemie einzudämmen, längst in unser aller Privat- und Berufsleben ein. Ignorieren und Weitermachen-wie-bisher ist nun, nach einem schönen Sommer, während dem man Corona noch relativ bequem ausblenden konnte, nicht mehr möglich.
Jetzt kann man resignieren, sich mehr oder weniger kritisch allen Auflagen hingeben, sich zurückziehen oder sich beklagen. Doch mehr denn je ist es an der Zeit, auszuloten, was man der Situation Positives abgewinnen kann – schon um der eigenen Lebensqualität willen. Damit ist nicht der isolierte Rückzug in die eigenen vier Wände gemeint. Schränke ausgemistet, die Küchenkästchen geputzt und neue Kochrezepte ausprobiert, das haben wir alle seit März 2020 zur Genüge.
Nun geht es darum, unsere Beziehungen zum Umfeld zu intensivieren – was liegt dem Menschen als sozial und kulturell hoch entwickeltes Wesen näher? Statt sich durch Kneipen oder Partys zu ratschen, kann man einzelne Personen zu sich nach Hause einladen. Ja, das ist anstrengend, weil es mit Erwartungen und Tiefe verknüpft ist. Dabei muss man Entscheidungen treffen und Einzelnen aus dem Freundeskreis den Vorzug geben. Doch dafür bietet das Fokussierung, Unmittelbarkeit und Intensivierung. Man setzt sich mit dem Gegenüber auseinander und baut eine Beziehung auf, die lange nachwirkt.
Ähnliche Gelegenheiten würden sich beim Besuch kultureller Veranstaltungen bieten: Die Beschränkung auf eine äußerst reduzierte Besucherzahl hat zur Folge, dass man – mit viel Abstand zum Sitznachbarn – für einen Abend lang zu einem exklusiven Kreis gehört, der ein Konzert, eine Theatervorstellung o.ä. genießen darf. Man ist den Protagonisten auf der Bühne gefühlt näher und nimmt auch für diese einen hohen Stellenwert ein, ist man doch einer von wenigen Adressaten, denen die kulturelle Botschaft des Abends gewidmet ist. Auch eine solche Vorstellung bleibt nachhaltig in Erinnerung – bleibt zu hoffen, dass die Schließung aller Kulturstätten wie angekündigt nur für den November 2020 nötig ist. Wie tragisch wäre es, bliebe die ganze Mühe umsonst, die sich Kulturveranstalter mit der Ausarbeitung von detaillierten Hygienekonzepten machen.
Auch der Bezirk Niederbayern hat 2020 rasch gehandelt und ist seiner Verantwortung gegenüber Kulturschaffenden und kulturell interessierten Bürgern nachgekommen: Mit Angeboten wie „Kulturmobil“ https://www.kulturmobil.de/ oder dem Aktionstag „Ateliers in Niederbayern“ http://www.ateliers-in-niederbayern.de/ sind auch in Pandemie-Zeiten unmittelbare kulturelle Begegnungen möglich.
So sehr wir uns alle wieder andere Verhältnisse wünschen – wandeln wir die Beschränkungen doch um in Chancen und nutzen wir sie für eine intensive Begegnung mit Menschen, Ideen und Kulturgenuss!
Veronika Keglmaier
Foto: Sabine Bäter
Das Wasserschloss Train und sein berühmtester Gast

Inmitten von sanften Hügeln, durchzogen von Hopfengärten, liegt das Wasserschloss Train, über Jahrhunderte Wohnstatt von Fürsten und Edeldamen. Der berühmteste Gast aber war kein Adeliger. Es war Emanuel Schikaneder, ein Mann des Theaters.
Am 1. September 1751 erblickt er in Straubing das Licht der Welt. Seine Eltern sind bitterarme Dienstboten. Als der Vater stirbt, geht die Mutter mit den Kindern nach Regensburg. Dort verkauft sie im Dom Rosenkränze und Heiligenbildchen. Emanuel kommt aufs kostenlose Jesuitengymnasium. Hier werden Musik und Theater großgeschrieben. Aber schon bald hat er genug von der Schule und wird als Musiker durchs Land ziehen.
Als er sich einer Wanderbühne anschließt, geht es steil nach oben. Es dauert nicht lange, da ist er Regisseur und schließlich Chef der Truppe. Schikaneder, dieser Name bedeutet Action! Tosende Wasserfälle, grollende Vulkanausbrüche und blutige Schlachten auf der Bühne, das sind seine Spezialitäten. Sein Bühnenzauber ist berühmt, seine holprigen Verse sind berüchtigt – dabei sind seine komischen Singspiele, heute würde man Musicals dazu sagen, bei den Menschen äußerst beliebt.
Das kommt Kaiser Joseph II. wie gerufen. Ganz Europa schwärmt zu dieser Zeit für die italienische Oper, der Kaiser jedoch will das deutsche Singspiel triumphieren sehen; geklappt hat das nie, aber er holt Schikaneder nach Wien. Dort macht Schikaneder seine Sache gut; zu gut. Der Kaiser merkt schnell, wieviel Geld und Ruhm Schikaneder einheimst. Bald droht seine Beliebtheit das kaiserliche Burgtheater zu überstrahlen – also lässt ihn der Kaiser wieder fallen.
Schikaneder muss wieder von vorn anfangen. Über Salzburg, Augsburg und Memmingen gelangt er mit einer neuen Truppe schließlich nach Regensburg. Die Regensburger sind begeistert. Und Schikaneder hat einiges zu bieten: zum Beispiel Schillers Räuber. Alles, was im Drama nur erzählt wird, die Schlacht der Räuber gegen die Soldaten zu Pferde, eine brennende Stadt, der Sturm des Schlosses, all das wird dargestellt, und noch dazu unter freiem Himmel!
Vor allem die Damen sind von Schikaneder begeistert; besonders Elisabeth von Train, erst seit kurzem Schlossherrin von Schloss Train. Zuerst war sie eine einfache Dienstbotin, dann die Mätresse von Karl Anselm von Thurn und Taxis und schließlich hat er sie geheiratet und zur Schlossherrin gemacht. Schikaneder ist oft auf Schloss Train zu Gast; zu oft. Auch das ist ein Grund, warum er Regensburg über Nacht donauabwärts Richtung Wien verlässt.
Man sagt, und dieses Gerücht hält sich hartnäckig, Schikaneder hätte auf Schloss Train nicht nur seine Geliebte besucht, sondern auch Teile des Librettos der „Zauberflöte“ geschrieben. Aber das ist eine Fabel.
Das Libretto zur Zauberflöte ist mit Sicherheit erst in Wien entstanden und das ganz kurzfristig. Libretti sind zu der Zeit fast immer Teamwork. Weil es schnell gehen muss, sind meistens mehrere Dichter am Werk. Warum sollte es bei der Zauberflöte anders gewesen sein? Es geht darum, schnell den nächsten Hit zu landen, am besten noch vor der Konkurrenz. Und deswegen hat man oft in kürzester Zeit ein Textbuch zusammengeschustert. So ist es bei der Zauberflöte auch gewesen: Ein konkurrierendes Theater hatte das Singspiel „Kaspar, der Fagottist, oder die Zauberzither“ herausgebracht, also antwortete Schikaneder mit der Zauberflöte. Herausgekommen ist ein Stück voller inhaltlicher Brüche und wiedersprüchlicher Charaktere. Wenn Mozart dazu nicht die Musik geschrieben hätte, wäre das Stück heute vergessen und Schikaneder wahrcheinlich ebenfalls. Aber Mozart brauchte Geld. Über die Oper „La Clemenza die Tito“, für die Mozart die Arbeit an der Zauberflöte gern unterbricht, schreibt er in sein Werkverzeichnis: „eine wirkliche Oper“.
Christoph Goldstein
Foto: Sabine Bäter
Öffentlicher Raum – Schnee von gestern?

Öffentlicher Raum – darum geht es im Baukulturbericht, der dieses Jahr wieder einmal erschienen ist. Aber halt! Was ist der Baukulturbericht eigentlich? Und wer steht dahinter? Ganz kurz: Der Baukulturbericht wird alle zwei Jahre von der Bundesstiftung Baukultur herausgegeben. Die Stiftung finanziert sich hauptsächlich aus Bundesmitteln. Das Ziel: mit Veranstaltungen und Veröffentlichungen rund um‘s Thema Bauen informieren.
Öffentlicher Raum ist ganz, ganz wichtig. So könnte man den 168 Seiten langen Bericht zusammenfassen. Negativbeispiele und Kritik gibt es nicht, dafür viel allgemeines Blabla, allerdings garniert mit einigen positiven Beispielen. Gut und schön, aber bei diesen Beispielen geht es viel zu oft um Berlin, Hamburg und Düsseldorf, als ob es öffentliche Räume nur in Städten gäbe. – Grund genug, darüber nachzudenken, wie es in Niederbayern mit dem öffentlichen Raum so aussieht.
Das Herz eines kleinen Ortes, das ist der Dorfplatz: Kirche, Rathaus, Wirtshaus, Läden. Hier zeigt man sich („Mei, des Kleid is aber kurz!“), hier tauscht man sich aus („Ja, Frau Maier, haben’S scho ghört, dass…“), hier kauft man ein („Des Mehl is scho wieder teurer geworden!“), man schimpft, man lacht, man lebt und gehört, ob man sich mag oder nicht, irgendwie zu einer Gemeinschaft.
Heute steht diesem gewohnten öffentlichen Raum ein anderer, ein virtueller öffentlicher Raum im Weg: Das Internet. Soziale Netzwerke bestimmen immer mehr unser Leben: Wer hat auf Instagram das Foto mit dem süßesten Lächeln? Wer hat den härtesten Waschbrettbauch auf Tinder? Wir machen uns zur Ware, dauernd im Wettbewerb mit anderen Usern. Die Währung sind Likes, wer kann an meisten davon sammeln?
Der öffentliche Raum muss also etwas bieten, mehr als die eigene Wohnung. Meistens ist er aber einfach nur Parkplatz. Man kauft im Gewerbegebiet ein und danach geht‘s nach Hause in die Einfamilienhauswüste. – Was kann man tun? Mehr Grün, weniger Beton, mehr Bänke, weniger Parkplätze, Cafés, kleine Läden, Märkte, Vereine, Schulen, Veranstaltungen, Mehrgenerationenhäuser und so weiter.
Die Autos ganz aus dem Ortskern zu verbannen, das geht nicht. In Frontenhausen ist es gelungen einen Kompromiss zwischen Autofahrern und Fußgängern zu finden.
Es muss nicht immer Granit sein. Die Platanen bilden den Rahmen des gekiesten Marktplatzes. Auf dem Platz selbst sind Autos verboten, drumherum nicht. Dieser Platz ist mit einem Cafè und Restaurant, Läden, einem Brunnen und Sitzbänken wie geschaffen für Veranstaltungen, Märkte, für das Gespräch und, und, und.
Anders in Geisenhausen: Dieser Marktplatz ist kein Markt- sondern ein Parkplatz. Hier will sich niemand länger als nötig aufhalten; es ist auch kein Wunder, wenn ein Beerdigungsinstitut das erste Haus am Platze ist.
Wie gemütlich kommt dagegen der Reisbacher Marktplatz daher! Die hohen Bäume spenden Schatten. Es plätschert sogar ein kleiner Bach.
Wer einen lebendigen Ortskern haben will, steht heute vor gewaltigen Herausforderungen. Das kostet Geld und Hirnschmalz – aber das sollte es uns allen wert sein.
Christoph Goldstein und Helmut Wartner
Foto: Markt Frontenhausen, Christoph Goldstein, Markt Reisbach
Denn vor Gott sind alle Menschen gleich (Römer 2,11)

Die Rassismus-Debatte hat mittlerweile auch die Kultur erreicht: Michael Endes Kinder-Abenteuergeschichte „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ sollte nach Auffassung einer Pädagogin aufgrund der literarischen Figur des dunkelhäutigen Jim und darin begründeter rassistischer Klischees umgeschrieben werden. In Astrid Lindgrens „Pipi Langstrumpf“ wurde Pipis Vater, ursprünglich der „Negerkönig aus Taka-Tuka-Land“, bereits zum „Südseekönig“ umbenannt. Aktuell dreht sich die Debatte über die Dreikönig-Darstellung der evangelischen Münstergemeinde in Ulm um ein Phänomen der religiösen Kunst: Die Holzfigur des schwarzen Melchior mit ihren dicken Lippen und ihrer unförmigen Statur sei aus heutiger Sicht eindeutig als rassistisch anzusehen, so heißt es. Damit solle nicht generell das biblische Personal der Drei Könige aus der Krippe verbannt werden, relativiert man mehrfach. Lediglich die unvorteilhafte Ausfertigung des schwarzen Königs führe dazu, dass man diese Figur nicht mehr zeigen und zumindest heuer die Weihnachtsgeschichte nach Lukas erzählen will, in der die Heiligen Drei Könige nicht vorkommen. So reagiert die evangelische Gemeinde mit ihrer Entscheidung auf eine aktuelle politische Debatte.
Wie die meisten dieser Auseinandersetzungen – seien sie links- oder rechts gefärbt – wird auch diese ideologisch-eindimensional geführt, ausgelöst von Ereignissen, die sowohl durch politische Agitation als auch über die Medien zu kollektiver Betroffenheit und Aktionismus führen. Dabei werden die Vorgänge meist ausschließlich vom gegenwärtigen Betrachtungshorizont und von subjektiven Standpunkten aus beurteilt, ohne den historischen Kontext mit einzubeziehen und zu respektieren. Kulturgeschichtliche Komplexität und Symbolik der Heiligen Drei Könige lassen sich aber nun einmal nicht rückwirkend zum Rassismus-Phänomen stilisieren, und ebenso wenig eignen sich die drei Bibelgestalten für jedwede politische Instrumentalisierung.
Aber der Reihe nach: Die Überlieferung spricht von Weisen, Magiern, Sternkundigen und schließlich von Königen. Sie bringen dem Neugeborenen teure Geschenke dar. Es ist also von Gebildeten, Intellektuellen und Privilegierten die Rede, nicht von Benachteiligten, so genannten „underdogs“. Die drei Individuen verkörpern die drei Lebensalter, die Jugend, das Mannes- sowie das Greisenalter, und repräsentieren die damals bekannten drei Erdteile, Asien, Europa und Afrika. Damit werden keine Klischees bedient, sondern es geht um Symbolik, die in ihrer christologischen Botschaft besagt, dass vor Gott alle Menschen unabhängig ihrer Herkunft und Hautfarbe gleich sind.
So gesehen ließe sich die Ulmer Reaktion geradezu ins Gegenteil verkehren: Eben weil der dunkelhäutige König entfernt wird, könne man sich des Rassismus-Vorwurfs aussetzen. Überdies verschlimmbessert die Berufung auf sein unvorteilhaftes Aussehen die ganze Unternehmung, könnte man doch dadurch auch gleich noch die Bevorzugung der quasi „Schönen“ vermuten. Aber man muss der einen Absurdität nicht mit einer anderen begegnen, zumal beides im Widerspruch zur Krippen-Programmatik steht.
Um beim Thema Ästhetik zu bleiben: Wer in der Kunst bei der Abbildung der menschlichen Gestalt stets die vollendete anatomische Darstellung erwartet, wird bei der Recherche quer durch die Kunstgeschichten der Kulturen, beim Besuch von Museen und Galerien ernüchtert. Insbesondere die Volkskunst – nicht nur die europäische, auch die afrikanische und viele andere – bildet Menschen stark vereinfacht, auf das Wesentliche reduziert oder dieses hervorgehoben, ab. Was zumeist kultischen Zwecken diente, folgte weder den klassischen anatomischen noch ästhetischen Maximen von Malerei und Bildhauerei. Und selbst die Hochkunst setzte sich mit Beginn der Klassischen Moderne im frühen 20. Jahrhundert darüber hinweg. Die künstlerische Avantgarde brach nicht zuletzt durch Abstraktion mit der naturalistischen und gegenständlichen Darstellung. Zwar wurden wenig später ihre wegweisenden Werke von den Nationalsozialisten als „Entartete Kunst“ diffamiert und verboten, doch hat man diese ideologisch begründete Herabwürdigung kulturpolitisch überwunden. Eine Konsequenz daraus war die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Kunst. Diese Errungenschaft gilt es nicht zu verspielen.
Maximilian Seefelder
Foto: https://pixabay.com/de/photos/s%C3%BCdafrika-kapstadt-kunst-figur-1001561/
Erinnerungskultur oder Vergangenheitsbewältigung?

„Erinnerungskultur“ ist ein Leitbegriff der modernen Kulturgeschichtsforschung aus den 1990er-Jahren. Man versteht darunter die öffentliche Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse. Diese können politischer, ästhetischer oder geistig-ideeller Natur sein. Auch Feste, Bräuche, Gedenktage, Feiertage etc. zählen dazu. All dies wird meist übereinstimmend getragen von sozialen Gruppen, Ethnien oder Nationen.
Zeitlich versetzt, wie so oft, ist der Begriff der „Erinnerungskultur“ mittlerweile auch in Politik und Gesellschaft angekommen. Gerade in jüngerer Zeit ist viel davon die Rede, aber stets und besonders im Hinblick auf dramatische historische Ereignisse und Jahrtage wie etwa dem Ende des Zweiten Weltkriegs oder der Befreiung des Lagers Auschwitz. Großes Augenmerk wird auf die Erinnerung an den Holocaust und an die NS-Krankenmorde gelegt. Zahlreiche Erinnerungs- und Gedenkstätten sind deshalb entstanden und geplant.
In diesem Zusammenhang ist auch ein grundlegender Perspektivenwechsel in der jüngeren Geschichte zu erkennen: Nicht mehr die sogenannten Helden stehen wie ehedem im Zentrum der Erinnerung, sondern die Opfer. Solche, ob erfasst oder unbekannt, gab es weitaus mehr als „Helden“. Somit stellen Erinnerungsmale für die Opfer Mahnmale im Sinne eines „Nie wieder“ dar. Darüber besteht breiter gesellschaftlicher Konsens, selbst wenn eben dieser immer wieder Andersdenkende auf den Plan ruft. Fakt bleibt: Vielen Menschen geschah Unrecht. Geschichte lässt sich weder rückgängig machen noch verbiegen.
Doch der breit angelegte Begriff der Erinnerungskultur wird aktuell auf diese Gräueltaten der deutschen Zeitgeschichte verengt. Diese gilt es freilich nicht zu verdrängen, sondern gewissenhaft und mit Anstand aufzuarbeiten – für die Geschichtsbücher, in Form von Gedenkstätten, an Jahrtagen mit Gedenkfeiern, in Ansprachen und durch symbolische Handlungen. Das nennt man Vergangenheitsbewältigung. Sie ist unerlässlich für die letzten Mitglieder der Erlebnisgeneration ebenso wie für die nachfolgende Generation, denen die Zeitzeugen jene Geschehnisse überlieferten.
Für Jugendliche und Kinder allerdings bilden Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg allenfalls Ereignisse aus einer fernen Vergangenheit, die nicht zu ihrer Vergangenheit zählt. Sie ist nicht Teil der kollektiven Erinnerung ihrer Generation, welche die Entscheidungen und Taten ihrer Ururgroßeltern weder zu verantworten noch zu rechtfertigen hat. Für Kindeskinder soll es Aufklärung geben, ja und unbedingt, aber keine „Erbschuld“. Zu hoffen wäre, dass sie den Begriff „Erinnerungskultur“ dereinst auch wieder mit positiven Erinnerungen verknüpfen können. Ihn aus der eigenen Erlebnisperspektive heraus zu interpretieren, bleibt sowieso das Vorrecht ihrer Generation.
Maximilian Seefelder
Foto: Maximilian Seefelder
Die Äxte nieder! 50 Jahre Nationalpark Bayerischer Wald

„Früher war alles besser“. Immer wenn den Menschen die Welt, in der sie leben, fremd wird, ist dieser Satz nicht weit weg. Auch die Geschichte der Natur- und Heimatschutzbewegung beginnt in Deutschland mit diesem Satz. Woran sich festhalten, wohin fliehen, wenn Städte und Fabriken die Welt aufzufressen drohen? Heimat ist das Zauberwort! Damals und heute. Heimat wird dann schnell zum romantischen Naturidyll verklärt, vor allem der Bayerische Wald. Und dieses Idyll, das muss verteidigt werden, gegen das Neue und das Fremde. So steht es auch in § 1 der Satzung des 1904 gegründeten „Bund Heimatschutz“:
„Der Zweck des Bundes ist, die deutsche Heimat in ihrer natürlichen und geschichtlich gewordenen Eigenart vor Verunglimpfung zu schützen.“
Man wollte das Idyll deutsche Heimat vor den immer bedrohlicher werdenden Städten und Fabriken bewahren. Vom Idyll ist es dann nicht weit zur Ideologie, zu „Blut und Boden“ und zum „Mythos Deutscher Wald“. All das war für die Propaganda der Nationalsozialisten ein gefundenes Fressen. Die Heimat- und Naturschützer wurden Marionetten, ganz im Glauben sich redlich zu bemühen. Die Idee im Bayerischen Wald einen Nationalpark zu schaffen, war für die Nationalsozialisten gleich aus mehreren Gründen interessant; aus ideologischen, wirtschaftlichen und touristischen. Der Bayerische Wald wurde zum „Kraft durch Freude“-Paradies. Allein die Zahl der Übernachtungen in Bodenmais stieg zwischen 1933 und 1938 von ungefähr 4000 auf 38.000. Bis 1941 hat man mit Hochdruck am Projekt Nationalpark gearbeitet. Das Gebiet war fertig eingegrenzt und sogar ein Reiseführer für den künftigen Nationalpark war druckfertig. Im Strudel des sich zuspitzenden Kriegsgeschehens ist die Idee Nationalpark dann untergegangen. Erst viel später, in den 60er Jahren hat man wieder davon gesprochen. Die Jäger und Förster waren gegen einen Nationalpark und in vielen Köpfen entstanden schon Skilifte und Hotels. Aber letztendlich haben es Naturschützer, Wissenschaftler und Politiker doch geschafft, die Regierung zu überzeugen. Eigentlich ein Wunder. Das viel größere Wunder aber ist, dass es in diesem Nationalpark nicht darum geht, ein Abbild der Natur zu pflegen, so wie der Mensch sich Natur vorstellt, sondern darum, die Natur in Ruhe zu lassen. Denn die Natur kann sehr wohl ohne den Menschen. Man muss es nur geschehen lassen, auch wenn in den Augen vieler Förster umgestürzte, verwesende Bäume ein „Saustall“ sind.
Christoph Goldstein
Foto: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Nationalpark_Bayerischer_Wald_Lusen.jpg
Blau – von der Kriegsbemalung zur Lieblingsfarbe

Blaue Augen zu haben war für einen Römer das Schlimmste, ein schrecklicher Schönheitsfehler. Für die Farbe Blau hatten die Römer, und auch die Griechen, nicht einmal ein Wort. Denn Blau, das war die Farbe der Barbaren, die Kriegsbemalung der Germanen und Kelten.
Die drei Grundfarben der Antike waren Weiß, Schwarz und Rot. Das lag auch daran, dass sich damit Kleider sehr leicht färben ließen. Mit Blau, Grün und Gelb war das nicht so einfach.
Farben sind Symbole, hinter ihnen verbirgt sich immer etwas, ein Code: Rot war die Farbe der Könige, Weiß die Farbe der Reinheit und Schwarz die Farbe der Trauer. Auch die Christen haben das übernommen: Weiß für die Hochfeste, Rot für das Blut Christi und Schwarz für Trauer, Buße und Fastenzeit, dazu kam Grün als Alltagsfarbe, wenn Weiß, Rot oder Schwarz nicht angebracht waren. Von Blau keine Spur. Und das ist noch heute so. Oder haben Sie schon einmal einen Pfarrer im blauen Messgewand gesehen? Das heißt nicht, dass es blau nicht gegeben hat. Blau war die Farbe der Bauern, der unteren Stände.
Im Mittelalter war blau voll im Trend. Blau war d i e Modefarbe! Warum? Die Menschen wollten immer größere, immer prächtigere Kirchen bauen. Das Vorbild war das himmlische Jerusalem aus der Offenbarung des Johannes, in dem es nur so blinkt glitzert. In der Offenbarung des Johannes wimmelt es nur so von Zahlensymbolen: Die 12 Edelsteine, die die Stadtmauer schmücken stehen für die 12 Apostel und die 12 Stämme Israels. Und bei diesen 12 Edelsteinen darf natürlich einer der schönsten, der Saphir, nicht fehlen. „Seine Anmut ist heilig und lässt das Licht Gottes in die Kirche strömen“ lesen wir in den Schriften von Abt Suger. Von da an beginnt der Siegeszug der Farbe Blau. Auf einmal gibt es blaue Kirchenfenster, Marienfiguren werden mit blauem Kleid dargestellt, es tauchen blaue Wappen auf und blau wird die Farbe des Königs von Frankreich.
Bis zum Mittelter hat sich auch in der Dichtkunst alles um die drei althergebrachten Farben Rot, Weiß und Schwarz gedreht. Ein gutes Beispiel ist die Geschichte vom Rotkäppchen; ein uraltes Märchen. Die älteste Version ist uns aus dem Jahr 1000 überliefert: ein kleines, rot angezogenes Mädchen bringt der Großmutter, die ein schwarzer Wolf gefressen hat, weiße Butter; dasselbe in einer der ältesten Fabeln, die wir kennen, die vom Raben und vom Fuchs: Ein schwarzer Rabe sitzt auf einem Ast und will gerade einen weißen Käse verspeisen. Da kommt ein roter Fuchs und sagt, er, der Rabe, habe so eine schöne Stimme. Geschmeichelt öffnet der Rabe den Schnabel um zu singen – da fällt ihm der Käse hinunter. In den Rittersagen kommen böse rote Ritter vor, gute weiße, geheimnisvolle schwarze und unerfahrene, wagemutige grüne. Allmählich drängt sich Blau dazwischen. Nach und nach wird der schwarze Ritter zum bösen Ritter und der blaue Ritter zum Held.
Und so setzt sich der Siegeszug der Farbe Blau über die Jahrhunderte fort. Von der blauen Blume in der deutschen Romantik, über Werthers blauen Frack im Sturm und Drang bis hin zur Blue Jeans.
Seit es Meinungsumfragen gibt, besetzt blau als Lieblingsfarbe den ersten Platz. Warum hat sich blau so durchgesetzt? Rot, schwarz und weiß waren über Jahrtausende Symbole und Zeichen. Das war mit blau ganz anders. Blau war eine neue Farbe, frisch, neutral und unverbraucht.
Christoph Goldstein
Foto: CC-BY-SA-4.0
Die Robinie – Baum des Jahres 2020

Über die Auszeichnung zum „Baum des Jahres 2020“ sind die Fachleute bereits in Streit geraten. Wie kann man einen blinden Passagier aus der neuen Welt, der zuerst vor 400 Jahren, wie man sagt, vom französischen Botaniker Jean Robin in Paris gepflanzt worden ist, in die Walhalla der deutschen Botanik aufnehmen? Dagegen könnte man einwenden, die langen, prächtigen Blütentrauben, den Duft von Bergamotte verströmend, scheinen die Bienen magisch anzuziehen und das Altholz ist ein Paradies für seltene Käfer wie den Eremit, den man auch Juchtenkäfer nennt.
Die Robinie, sie trägt auch den Namen Scheinakazie (Robinia pseudoacacia), ist zu Anfang ein Objekt botanischer Liebhaberei gewesen, das Parkanlagen einen Hauch von Exotik verleihen sollte. Aber ihr schneller Wuchs, ihr anspruchsloses Wesen hat ausgelaugte und verödete Landstriche und Wälder schnell wieder belebt. Diese sehr nährstoffarmen Standorte sind heute allerdings so selten geworden, dass gerade dort die äußerst konkurrenzstarke Baumart stört, weil sie die schützenswerten Arten der empfindlichen Biotope zu verdrängen droht.
Über dem krummen Stamm, dessen Rinde von Furchen durchzogen ist, wölbt sich die spärlich belaubte Krone. Vorsicht, die Robinie sticht! Die Äste sind mit stacheligen Dornen besetzt und an den langen, eleganten Stielen sind, wie Perlen, viele kleine, eiförmige Blättchen aufgereiht. Für uns Menschen sind Rinde, Blätter und Samen stark giftig. Die Rinde enthält zahlreiche für die Pharmazie wertvolle Inhaltsstoffe wie ätherische Öle, Flavonide, Gerbstoffe oder Glycoside und das Robinin. Der blassgelbe, fruktosereiche und glukosearme aus dem Robiniennektar gewonnene Blütenhonig bleibt deshalb immer flüssig und schmeckt köstlich.
Das Holz ist dichter und härter als das der Eiche und fault kaum, dank der Gerbsäuren. Für Pfosten, Zäume, Außenmöbel und Spielplatzgeräte ist das langlebige Holz der Robinie wie geschaffen. Das Wachstum des Baumes ist in der Jugendphase außergewöhnlich rasch und übertrifft mit einer Wuchsleistung von 14 m³ pro Jahr fast alle anderen Laubbäume. Trotz des hohen Brennwertes beträgt der Anteil von Robinien in deutschen Wäldern aber lediglich 0,1 %. Denn der Forstwirt schätzt eher gerades, möglichst astfreies Holz, das die Robinie nicht zu liefern im Stande ist. Bei den Landwirten hingegen keimt das Interesse für die Robinie. Sie wächst schnell und ihr Holz eignet sich hervorragend als Biomasse.
Den Klimawandel steckt die Robinie locker weg. Hitze, Frost, Trockenheit und Salz können ihr nichts anhaben. Für die dreckige Stadtluft ist sie ein Segen. Dank des dichten, kräftigen Wurzelsystems hält die Robinie bröckelnde Böschungen, Dämme und Hänge.
Helmut Wartner
Foto: https://pixabay.com/de/photos/gew%C3%B6hnliche-robinie-baum-blumen-5329260/