Zuserl – vom Reiz der Rhythmik

Auf der Suche nach regionalen musikalischen Besonderheiten begegnet uns immer wieder auch der Zwiefache, ein takt- bzw. tempowechselnder Tanz, der es 2016 sogar ins Bundesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCO-Kommission geschafft hat. Die Musikgattung gilt als identitätsstiftende Kulturform, die in großer Vielfalt erscheint. Die Unregelmäßigkeit des Taktwechsels weckt das Interesse, die rhythmische Nuss, die hinter jedem einzelnen Zwiefachen steckt, zu knacken. Man möchte ergründen, in welcher Reihenfolge sich jeweils Dreiviertel- (Walzer) und Zweivierteltakt (Dreher) aneinanderreihen. Was für ein Vergnügen, wenn man die musikalischen Schwerpunkte erkennt und die reizvollen Melodien mühelos singt, musiziert oder tanzt!
Eine der bekanntesten Zwiefachenmelodien ist das Suserl oder Zuserl. Im Wörterbuch des bayerischen Sprachforschers Johann Andreas Schmeller aus dem 19. Jahrhundert wird Zusel als „Schimpfbenennung einer Weibsperson; Concubina“ beschrieben. Darüber hinaus gibt es kindersprachlich das Wort Zuserl oder Zus für Schweinchen. Im Volkskulturarchiv des Bezirks Niederbayern (VABN) finden sich verschiedene Notationen des Zwiefachen, die sich geringfügig unterscheiden – so, wie man sich in der Praxis die Melodie eben zurechtgespielt hatte:

Handschrift aus Vohburg, notiert von Hans Mathes zwischen 1968 und 1978, VABN N 3.

Handschrift aus dem Besitz von Josef Müller, Abensberg, notiert vor 1905 in alter Zwiefachennotation: eine Achtelnote im Drehertakt entspricht einer Viertelnote im Walzertakt, VABN N 5.

Handschrift aus Bernried b. Metten, notiert von Alois Prebeck 1948, notiert in alter Zwiefachennotation, VABN N 338/8.
Bis in die 1970er Jahre fand der Zwiefache unter dem Titel „Zuserl“ Verbreitung – so lange, bis der Volkssänger Josef Eberwein (1895-1981), Gründer der bekannten Dellnhauser Musikanten, 1972 unter dem Titel „’s Suserl“ zwei Strophen veröffentlichte, die vom Tanzen mit einem Mädchen namens Suserl handelten. Damit wurde die despektierliche Bedeutung des Begriffs Zuserl elegant umgangen. Mit dem neuen Text erlangte der Zwiefache große Bekanntheit und findet sich bis heute im Repertoire vieler Volksmusikgruppen. Eberweins Text findet sich hier: https://www.stammtischmusik.at/noten/suserl.htm
Weitere Verbreitung erlangte die Melodie 1995 als „Mäkki-Lied“ in einer Neuvertextung von Otto Göttler: Mit den Anfangszeilen „Hunger kriag i glei, wann i an Mac Donald’s siech, wird’s mir im Magn drin warm, ziagt’s ma‘n glei zsamm“ widmete sich Göttlers musikkabarettistische Gruppe Bairisch Diatonischer Jodelwahnsinn satirisch-frech dem Thema Fastfood. Das Stück wurde einer der größten Erfolge der bayernweit bekannten Gruppe. Hier kann man es anhören: https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=8hYKORj5s2o&t=0s

Handschrift aus dem Besitz von Alois Stadler, Nöham, notiert 1920 in alter Zwiefachennotation, VABN N 323/162.
Im diesem Beispiel aus Nöham begegnet uns eine weitere Variante des Zwiefachen – diesmal nicht mit anderem Text, sondern mit einer völlig anderen Melodie. Deren erster Teil ist eigentlich als „Zimmermichl“, „Zipfe Miche“ oder „Sommerer Michl“ bekannt. Vergleicht man alte Notenhandschriften, zeigt sich immer wieder einmal: Ein und dieselbe Zwiefachenmelodie kann unter verschiedenen Namen überliefert sein, ebenso wie uns unter einem Namen ganz unterschiedliche Melodien begegnen. Dies ist bei den vielfältigen Verbreitungswegen und überwiegend mündlicher Überlieferung von Volksmusik durchaus möglich. Es gibt hier keine „richtige“ oder „falsche“ Version. Die Varianten und Unterschiede können vielmehr als Beweis dessen gedeutet werden, dass die Melodien rege in Gebrauch waren, vielfach weitergegeben wurden und unterschiedlich zurechtgespielt wurden. Die Zwiefachen mischen also nicht nur Taktarten bunt durcheinander, sondern hin und wieder auch ihre Namen und Melodien …
Veronika Keglmaier
„Ei, ei, ei … Verpoorten“ Eierlikör aus Straubing

Niederländische Seefahrer hatten im südamerikanischen Amazonasgebiet einen wohlschmeckenden Likör der indianischen Ureinwohner, hergestellt aus Avocadofrüchten, kennengelernt. Versuche, den Avocado-Strauch im 17. Jahrhundert auch in Europa heimisch zu machen, scheiterten, aber findige Flamen kamen auf einen idealen Ersatz: Sie mischten Eidotter mit Branntwein, Zucker und anderen Gewürzen zu einer genialen Komposition, der Eierlikör „Advocaat“ war erfunden.
Die Anfänge der Weltfirma Verpoorten liegen im deutschen Städtchen Heinsberg bei Aachen, wo der flämische Kaufmann und Schnapsbrenner Eugen Verpoorten 1876 eine „Liqueur-Fabrik“ gründete. Sein Enkel Wilhelm heiratete 1920 die Berlinerin Elly Matishock und errichtete in Kreuzberg die „Verpoorten & Waschkin Fabrik für Tafelliköre und Holländische Spezialitäten nach Originalrezepten“. Von Berlin aus versorgte Willi Verpoorten nun ganz Deutschland per Pferdewagen und Eisenbahn mit Schnäpsen, Kräuterlikören und natürlich mit Advocaat.

Straubinger Belegschaft der Fa. Verpoorten, um 1938 (rechts vorne stehend: Elly Verpoorten) (Stadtarchiv Straubing)
In den 1930er Jahren wurde es immer schwieriger im Gebiet um die Hauptstadt Berlin Eier zu bekommen, da sie der „gesunden Volksernährung“ vorbehalten waren. Niederbayern hingegen wurde vom Reichswirtschaftsministerium zum Überschussgebiet für frische Eier deklariert. So kam am 1. März 1936 Elly Verpoorten in Straubing an, um hier eine neue Produktionsstätte für Eierlikör aufzubauen. Die neue Eierlikörfabrik wurde in der Heerstraße, im ehemaligen Maschinenhaus der Brauerei Setz, eingerichtet. Als die Berliner Fabrik zerbombt wurde, zog auch Willy Verpoorten im Dezember 1944 nach Straubing. Trotz der Kriegswirren lief die Eierlikörproduktion in Straubing weiter; man fabrizierte das beliebte Stärkungsmittel zum Beispiel für das Deutsche Rote Kreuz. Am 28. April 1945 marschierten die Amerikaner in Straubing ein. In den folgenden drei Tagen war Straubing für die Plünderung freigegeben. Auch die Verpoortens wurden nicht verschont, amerikanische Soldaten, befreite Fremdarbeiter und auch die Bewohner der Nachbarschaft halfen eifrig mit, die Bestände eimerweise wegzuschaffen. Zeitzeugen berichten vom „knöchltiefen“ Eierlikörsee im Setzkeller. Als Sohn Viktor Verpoorten, entlassen aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft, 1945 ebenfalls nach Straubing kam, renovierte und erweiterte man den Betrieb. Bis zur Währungsreform produzierte man Essig- und Senfgurken und handelte mit heißen und kalten Getränken. Im Sommer 1948 konzentrierte man sich als „Fa. Destillerie Verpoorten OHG. Straubing, Heerstraße 2“ dann wieder auf die Eierlikörherstellung. Schwierig war es nun aber, ausreichend Eier zu bekommen: Niederbayern war kein „Überschussgebiet für Eier“ mehr, der große Flüchtlingsstrom musste versorgt werden, zudem verschoben die Einheimischen ihre Ware lieber nach München, wo die „naturfrischen Hühnereier aus dem Gäuboden“ ein lukratives Geschäft waren. So wurden nun mit dem „Verpoorten-Lastwagen“ unermüdlich Eier aus Holland, Belgien und Norddeutschland geholt.
25 bis 30 Leute, vor allem Frauen, arbeiteten für die Verpoortens. Waren vor dem Krieg unter Aufsicht der „Chefin“ die Eier per Hand aufgeschlagen worden, gab es nun eine halbautomatische „Eierköpfmaschine“. Während sich das Eigelb mit Branntwein und geheimen Zutaten zum berühmten Advocaat wandelte, wurde das Eiweiß in Kübeln aufgefangen und nach Nürnberg in die Lebkuchenfabriken oder an einheimische Bäckereien verkauft. Die Eierschalen holten sich Straubinger Bauern und Bürger, von denen vor allem in der Kriegs- und Nachkriegszeit viele eigenes Federvieh hielten, als Hühnerfutter.
1953 verlegten die Verpoortens ihre Firma nach Bonn. Die Verpoortens wollten zwar lieber in Straubing bleiben, das ihnen zur neuen Heimat geworden war. Versuche, in Straubing ein geeignetes Grundstück für ein neues großes Werk zu finden, waren aber gescheitert. Die junge Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland hingegen warb um Industrieansiedler, war zudem für die Verpoortens auch ein strategisch günstiger Standort: Fracht- und Vertriebswege wurden kürzer; der Hauptlieferant für Glasflaschen saß im Ruhrgebiet.
Elly Verpoorten, die tatkräftige und angesehene „Gründerin“ der Straubinger Eierlikörfabrik, starb 1968. Ihr Sohn Viktor Verpoorten erinnerte sich an die Straubinger Epoche als eine „sehr glückliche Zeit“: „Weil wir so viele, viele Jahre dort als Unternehmer tätig waren, hörte ich einmal von einem unserer Freunde den schönen Satz zu meiner Mutter sagen: ‘Elly, du bist a Preussin mit mildernden Umständen, weil’st scho so lang in Straubing bist und weil’st katholisch bist.’“

Eierlikörproduktion in Straubing mit Maria Sturm (Vorarbeiterin) und Emmy Kuglmeier, um 1950 (Stadtarchiv Straubing)
Eierlikör wurde wie Nierentische und Tütenlampen zum Symbol der Wirtschaftswunderzeit. Und die Firma Verpoorten entwickelte sich mit dem von Viktor erfundenen Werbeslogan „Ei. Ei, ei – Verpoorten“ zum weltgrößten Hersteller von Eierlikör. Sie ist nach wie vor – mittlerweile in der fünften Generation – ein Familienunternehmen. Der Eierlikör wird hierbei übrigens nach dem seit 1876 unveränderten Geheimrezept produziert.
Dr. Dorit-Maria Krenn
Das niederbayerische Pendant zum „Spiegel“

Der Verleger der Passauer Neuen Presse, Hans Kapfinger (1902-1985), hatte 1961 die Wochenzeitschrift „aktuell“ gegründet, um Konrad Adenauer zum Gewinn der Bundestagswahl im gleichen Jahr zu verhelfen. Das Magazin sollte als politisch rechts stehendes Pendant zum „Spiegel“ agieren. Eines der explizit ausgesprochenen Ziele war es, den damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt politisch zu diskreditieren. Dessen Biografie bot dafür vielfältige Angriffspunkte: Brandt war als uneheliches Kind zur Welt gekommen, während der NS-Zeit nach Norwegen und Schweden geflohen und hatte erst 1948 die deutsche Staatsbürgerschaft zurückerhalten. Fortan waren vor allem Brandts angebliche Tätigkeiten als „Vaterlandsverräter“ während des Krieges und seine Frauengeschichten samt unehelichen Kindern Themen in „aktuell“. Zudem wurde Brandt als Kommunist dargestellt, der im Gegensatz zu den „aufrechten Deutschen“, die im Krieg gedient hatten, nie eine Waffe in der Hand gehabt hätte. Die Artikel dienten als Steilvorlage für Politiker wie Franz Josef Strauß, der im Februar 1961 auf einer Kundgebung in Vilshofen erklärte: „Eines wird man doch Herrn Brandt fragen dürfen: Was haben Sie in den zwölf Jahren draußen gemacht? Wir wissen, was wir gemacht haben.“ Subtil wurde das Misstrauen der Leser geschürt, die sich vielleicht mit schlechtem Gewissen an ihre eigene Rolle im Dritten Reich erinnerten, während Brandt als Emigrant eine weiße Weste hatte. Artikel in „aktuell“ legten deshalb nahe, dass Brandt in Norwegen als Agent gearbeitet habe.
Der Passauer Verleger Kapfinger war journalistisch keineswegs neutral, sondern Teil des konservativen Wahlkampfteams um seinen Duzfreund Franz Josef Strauß und Konrad Adenauer. In der Passauer Neuen Presse bewarb Kapfinger ausführlich die Gründung von „aktuell“: „SPD-Genossen, nun wird zurückgeschlagen! Jetzt wird euch die Maske vom Gesicht gerissen.“1 Finanziert wurde das Magazin unter anderem mit Geldern der Union und sogar Konrad Adenauer selbst soll zugesichert haben, insgesamt 1,8 Millionen D-Mark beizusteuern. Kapfinger versprach ihm daraufhin in einem Brief: „,Aktuell‘, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, wird ihr treuester Bundesgenosse sein. […] Die Zeitung ist auf Dr. Adenauer verpflichtet, nicht aus Parteigründen, sondern weil ich Ihre Politik für richtig halte.“2
Kapfinger stellte sich das Redaktionsteam für das Magazin selbst zusammen. Außer zwei PNP-Redakteuren gehörten ihm ehemalige NS-Propagandisten an. Sie unterfütterten die bundesweite Hetzkampagne gegen Willy Brandt mit immer neuen Artikeln zu dessen Privatleben oder seiner Emigration nach Norwegen. Es gab kaum eine Ausgabe, die nicht seitenlange Attacken auf Brandt, die SPD oder die Gewerkschaften3 enthielt. Konservative Politiker wie Strauß und Ludwig Erhard erhielten dagegen eine Bühne und ihre Argumente wurden in ausführlichen Artikeln vorgestellt. Streitgespräche zwischen Politikern verschiedener Lager gab die Redaktion durch die Überschrift einseitig wieder.4 Daneben wurden wohlwollende Rezensionen zu Büchern von konservativen Autoren wie Kurt Ziesel oder Hans Frederik gedruckt, ohne zu erwähnen, dass diese selbst für „aktuell“ schrieben. Der Stil war boulevardesk und orientierte sich an der „Bild“-Zeitung. Die Redaktion von „aktuell“ versuchte ebenso Leser zu gewinnen mit vermeintlich unpolitischen Themen, die aber dennoch die konservative Weltanschauung wiedergaben. Ein negativer Artikel über die sich zunehmend emanzipierende Frau kam beispielsweise zum Fazit, dass Frauen sich eher unterordnen und selbst körperliche Gewalt des Mannes akzeptieren würden. Der Autor brachte das gefettete Zitat: „Wir wollen über’s Knie gelegt werden.“5
Ähnlich wie bei der rechtsextremen „Deutschen National-Zeitung“ wurde Aufrechnung statt Aufarbeitung betrieben. NS-Verbrechen wurden zwar benannt, jedoch wurde versucht diese mit angeblich ähnlich schlimmen kommunistischen Verbrechen gleichzusetzen. Anzeigekunden lehnten das ihnen politisch zu rechts stehende Magazin größtenteils ab. Zudem hielten ständige Verleumdungsklagen von angegriffenen Personen die Redaktion auf Trab. Auch Willy Brandt strengte Prozesse gegen die Berichterstattung von „aktuell“ an. Allein in Österreich wurden fünf Ausgaben verboten. Finanziell konnte das Magazin diesem Druck nicht lange Stand halten. Bereits nach etwas über einem Jahr war der Angriff auf den „Spiegel“ beendet und „aktuell“ musste das Erscheinen einstellen. Die letzte „aktuell“ erschien am 1.9.1962. Brandt hingegen verlor zwar die Bundestagswahlen 1961 und 1965, wurde aber letztlich 1969 zum Bundeskanzler gewählt.
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1 „Der rote Rufmord“, PNP vom 8.7.1961.
2 Brief von Kapfinger an Konrad Adenauer vom 16.9.1961, BArch NL Höcherl N/1407/11.
3 z.B. „Millionen im Rücken – Deutscher Gewerkschaftsbund auf ideologischem Vormarsch“, aktuell vom 22.7.1961. & „Deutschland deine Gewerkschaften – sie zerstören deinen guten Ruf“, aktuell vom 1.9.1962.
4 „Geschichte mangelhaft – Rückblende auf das Streitgespräch Strauß-Brandt am Starnberger See“, aktuell vom 22.7.1961.
5 „Abgewirtschaftet?“, aktuell vom 15.7.1961.
Der vorliegende Text ist eine Zusammenfassung eines Kapitels aus Michael Hellsterns Dissertation „Meinungsmacher mit dunkler Vergangenheit: Die Heimatpresse in Bayern von 1945 bis 1962 am Beispiel der Passauer Neuen Presse und der Mittelbayerischen Zeitung“, die am 30. März 2025 im Pustet-Verlag erschienen ist.
Michael Hellstern
Das Sumpfblutauge – Blume des Jahres 2025

Früher wurden Moore in Märchen und Gedichten als schaurige und gefährliche Orte dargestellt, heute stehen sie für eines der drängendsten Themen unserer Zeit: den Arten- und Klimaschutz. 95% der Moorflächen Deutschlands gelten als zerstört, dabei sind Moore, obwohl sie nur einen verschwindend kleinen Teil der Erdoberfläche bedecken, die besten Kohlenstoffspeicher, die es gibt. Legt man ein Moor trocken, entweichen Methan, Kohlenstoffdioxid und Lachgas, das weit klimaschädlicher ist als Kohlenstoffdioxid.
Um auf die Bedeutung der Moore als Lebensraum hinzuweisen, ist dieses Jahr das Sumpf-Blutauge (Comarum palustre) zur Blume des Jahres erwählt worden: Das Sumpf-Blutauge trägt viele Namen: Blutstropfen, Teufelsauge, Fingerkraut etc. Die Pflanze wächst vornehmlich am Rand von Hochmooren, aber auch auf schlammigen Böden von Niedermooren oder an Uferen von Bächen und Tümpeln. Besonders auffällig sind die Blüten, die von Mai bis August mit ihrer braun bis blutroten Färbung viele Insekten, darunter Wildbienen, Hummeln und Fliegen anlocken. Die Stängel werden bis zu 70cm lang und sind fein behaart. Die Blätter bestehen aus etwa drei bis fünf unpaarig Blattfiedern. Die Früchte, 1,5 mm große Nüsse, die dank ihrer Hakenspitze im Gefieder von Vögeln hängenbleiben und fortgetragen werden, sind nicht essbar und erinnern entfernt an Erdbeeren, was auch daran liegt, dass das Sumpf-Blutauge zur Familie der Rosengewächse zählt, zu welcher nicht nur Rosen, sondern auch viele andere Obstsorten wie Apfel oder Erdbeere gehören.
Es ist gar nicht so lange her, da war Niederbayern von ausgedehnten Moorflächen durchzogen, die heute bis auf einige wenige Restflächen völlig verschwunden sind. Im Landkreis Landshut etwa sind die erhaltenen Moorflächen geschützt, auch um Lebensräume für die für Niedermoore typische Tier- und Pflanzenwelt, beispielsweise wiesenbrütenden Vogelarten wie den Großen Brachvogel zu sichern. Auf diesen Flächen kämpft unter anderen der Landschaftspflegeverband (LPV) mit gezielter Biotoppflege und Renaturierungen gegen den Moor- und Artenschwund. Nicht zufällig gedeiht gerade auf diesen geschützten Flächen, neben vielen anderen seltenen Pflanzen, das Sumpfblutauge, von dem sich glücklicherweise ausgiebige Bestände finden lassen. Zum Beispiel durch das sogenannte Ansalben, also das gezielte Anpflanzen vorkultivierter Wildexemplare aus einem LPV-Nachzuchtprogramm, gefördert von der Regierung von Niederbayern, ist es möglich, die Bestände zu erweitern.
Die Wahl des Sumpfblutauges zur Blume des Jahres 2025 ist ein Zeichen dafür, wie wichtig der Erhalt und die Renaturierung von Mooren für unser Ökosystem sind. Nicht nur Moore, auch Uferbereiche von Gräben, Bächen und Seen sind ein wichtiger, schützenswerter Lebensraum für Pflanzen und Tiere.
Helmut Wartner
Foto: Gabi und Oktavio Franz
Wie ein Dorf seine eigene Geschichte bei einer Faschingshochzeit inszeniert

Schönbrunn am Lusen ist ein kleines Dorf in Niederbayern mit gerade einmal 500 Einwohnern: Hier gibt es viele klassische Vereinsfeste und Kulturangebote von der Theatergruppe bis hin zur Blaskapelle, die alle zwei Jahre ein Starkbierfest veranstaltet, zwei Wirtshäuser und neuerdings auch eine ganz einzigartige Veranstaltung: Erstmals findet am 15. Februar hier eine historische Faschingshochzeit statt.
Hintergrund ist die eigene Glashüttengeschichte des Dorfes. 1681 heiratete David Hilz (der zuvor in München in geheimer Mission Handgranaten aus Glas herstellte) die junge Glashüttenerbin Salome Poschinger. In der Folge ging die Hütte von der einen zur anderen Glashüttendynastie über. Doch nicht sofort: Die Schwiegermutter Ottilie wollte zunächst nicht übergeben, was aber zu Querelen führte, die in einer historisch-überlieferten Rauferei mündeten. Aus all dem Stoff haben die Schönbrunner eine lustige Faschingshochzeit gebastelt, samt Glasmachertreffen, Bänkelsänger und prominenten Ehrengästen wie dem Passauer Fürstbischof und dem Bayerischen Kurfürsten, die beide zwecks Bekanntschaft mit dem Bräutigam natürlich als Ehrengäste per Kutsche eingefahren werden.

Glasgranaten
Viel Kreativität wurde in den letzten Monaten dadurch in dem Dorf freigesetzt: Es wurden Videos für Social Media gedreht, Bänkelgesänge gedichtet, eine Trauung samt Pfarrer und Ministranten geplant und vieles mehr. In Ermangelung statistischer Daten zu Faschingshochzeiten in Bayern kann man natürlich nicht mit Gewissheit sagen, wie einmalig diese Kombination aus Faschingshochzeit, Historienspiel und Laientheater ist. Doch vor Ort sucht es in weitem Umkreis seinesgleichen.
Zumal sich auch zeigt: Der bayerische Fasching ist nicht unbedingt der Karnevalsklamauk, zu dem er sich in letzter Zeit entwickelt hat. Fasching hat damit zu tun, dass das Volk sich ein paar Tage lang fern von Alltagssorgen amüsiert und die Rollen vertauscht – und sich auch daran erfreut, wenn sich die höher gestellten Persönlichkeiten ein Stück weit selbst auf die Schippe nehmen. Wenn dann die eigene Geschichte noch witzig daherkommt und damit auch im Gedächtnis bleibt, ist es umso schöner.
Unter www.hoamat-wirtshaus.de/faschingshochzeit-2025/ ist das ganze Programm zu sehen.
Manuela Lang
Hans-Jürgen Wischnewski: „Ein Ostpreuße wird in Niederbayern Sozialdemokrat“

Wischnewski in Straubing
Hineingeboren in ein „ausgeprägt preußisches, sehr protestantisches und antinazistisches Elternhaus“, wie Wischnewski es beschrieb, war er nach dem Abitur 1941 zuerst Arbeitsdienstmann im Straßenbau, dann Kradfahrer bei einem Panzergrenadierregiment in Russland. Aus dem Krieg kehrte er mit der Überzeugung zurück, sich für ein freies, demokratisches Deutschland einsetzen zu wollen. Nach einer kurzen amerikanischen Gefangenschaft in Österreich gelangte Wischnewski Ende Juni 1945 nach Niederbayern. Wegen der ungeklärten Lage im besetzten Berlin hatte er keinen Passagierschein zu seinen Eltern erhalten und daher einen Kriegskameraden in dessen Heimatstadt Straubing begleitet. Da die Landwirtschaft des Kameraden aber längerfristig kein Auskommen ermöglichte, schickte man ihn in das nahe Ittling zum Gut Eglsee, er solle dort nach Arbeit fragen. Bei den Gutsbesitzern Carl Heinrich und Rita Beckmann fand der mittellose junge Kriegsheimkehrer wirklich Aufnahme, obwohl dort zeitweise bereits bis zu 300 Flüchtlinge und Heimatvertriebene versorgt wurden. So ist in einem Einwohnerverzeichnis der Gemeinde Ittling, zu der Eglsee damals gehörte, vom 10. Juli 1945 ein „Wischnewski Hans Schüler“ notiert. Auf Eglsee war Wischnewski auf dem Feld und in der Gutsschmiede tätig. Anfang September 1945 zog Wischnewski dann doch zu seinen Eltern im sowjetisch besetzten Teil Berlins. Die Erfahrungen, die er hier machte, trieben ihn Anfang Mai 1946 aber zurück nach Eglsee. Wie er in seinen Erinnerungen formulierte, wollte er seinen „neuen Lebensabschnitt nicht unter der Fuchtel Stalins“ beginnen.
Für den 20. September 1946 ist in den Meldeunterlagen der Wegzug aus Ittling eingetragen. Einen Tag später meldete er sich bei der Stadt Straubing an. Der technisch versierte Wischnewski soll hier für einen Landmaschinenhändler gearbeitet haben. Am 4. Oktober 1946 heiratete er die Straubingerin Ottilie Nirschl, die eine Tochter mit in die Ehe brachte. Von den vier leiblichen Töchtern Wischnewskis starb die älteste als Säugling. 1955 wurde die Ehe geschieden.

Hans-Jürgen Wischnewski, 1943 (Foto aus: Hans-Jürgen Wischnewski, Mit Leidenschaft und Augenmaß, München 1989)
Wischnewski als Parteisekretär
Die „Sozialdemokratische Partei für Straubing. Stadt- und Landkreis“ war Mitte September 1945 wieder begründet worden. Am 20. August 1946 trat Wischnewski der Straubinger SPD bei – eine Entscheidung, die sein ganzes späteres Leben prägte und die er „nie bereute“. Als Gründe gab er in seinen Memoiren an, dass er seinen „bescheidenen Beitrag“ zum Aufbau eines demokratischen Staates leisten wollte, die „Brutalität des Krieges“ und die „Schrecken der Vergangenheit“ sollten sich nie mehr wiederholen. In der SPD imponierten ihm zudem die vielen Mitglieder, die Widerstand gegen den Faschismus geleistet hatten. Außerdem sah er in dieser Partei die beste Chance, „die großen sozialen Unterschiede“ und die wirtschaftliche Not nach Kriegsende anzugehen. Zu diesen Aufgaben gehörte auch die Eingliederung von Millionen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, ein Thema, dessen sich auch die Straubinger SPD besonders annahm. Von den 518 Mitgliedern (davon 150 im Landkreis), die die Partei Mitte Juni 1947 zählte, waren etwa 40 Prozent erst durch den Krieg nach Straubing und Umgebung gekommen. Von den 13 Mitgliedern der Vorstandschaft waren acht Heimatvertriebene und Flüchtlinge.
Wischnewski wurde am 1. Mai 1947 vom „Kreisverband Straubing der SPD“ als hauptamtlicher Parteisekretär eingestellt, am 15. September 1948 schied er aus. Aus den erhaltenen Unterlagen aus dieser Zeit wird ersichtlich, dass Wischnewski insbesondere mit der Aufbauarbeit der Partei in der Stadt und im Landkreis Straubing beschäftigt war; er organisierte öffentliche Versammlungen, vor allem zur Gründung von Ortsvereinen und zur Wahlwerbung, trat als Redner auf, kümmerte sich um die Finanzen, hielt die Verbindung zur amerikanischen Militärregierung, der monatlich Bericht über die Aktivitäten der Partei zu erstatten war. So meldete er z.B. am 30. November 1947: „Im Monat November 1947 wurden 3 Mitgliederversammlungen, 2 Vorstandssitzungen, 2 Fraktionssitzungen der Stadtratsfraktion, 1 öffentliche Versammlung in Schambach, 1 öffentliche Versammlung in Kössnach sowie eine öffentliche Flüchtlingsversammlung in Straubing durchgeführt. In den Stadtrat sowie in den Kreistag wurde(n) je 2 Flüchtlinge der Partei mit beratender Funktion berufen. Die Mitgliederzahlen sind in weiterem Steigen begriffen. Die Finanzen sind in Ordnung.“ Zudem engagierte er sich bei den Jungsozialisten, war z.B. Beauftragter für die „Internationale Jugendarbeit“ der Jungsozialisten im Bezirk Niederbayern-Oberpfalz. Bei der Stadtratswahl am 30. Mai 1948 kandidierte er auf Platz 10 (von 20), schaffte den Einzug in den Stadtrat aber trotz hoher persönlicher Stimmenzahl nicht.
Politische Karriere
Im Juli 1949 verzog die Familie Wischnewski nach Dingolfing bzw. Gottfriedingerschwaige (Landkreis Dingolfing-Landau). Wischnewski hatte bei einer Landmaschinenfabrik als Arbeiter eine Stelle gefunden, bei der er Geld für ein Germanistikstudium in München verdienen konnte. Denn sein Berufswunsch war damals eigentlich Journalist. Als Mitglied der Gewerkschaft IG Metall engagierte er sich in der Firma für seine Kollegen, führte z.B. Tarifverhandlungen. Anfang der 1950er Jahre bot ihm die IG Metall eine arbeitsrechtliche Fortbildung in Köln an. Hier in der „Stadt aller Städte“ blieb er.
Bis 1959 war er als Gewerkschaftssekretär tätig, konzentrierte sich dann auf seine politischen Ämter: Er war Vorsitzender der Kölner SPD und Bundesvorsitzender der Jungsozialisten, von 1957 bis 1990 gehörte er als Abgeordneter dem Bundestag an, von 1961 bis 1965 auch dem Europäischen Parlament. Früh knüpfte er Kontakte im Ausland, bedingt durch den Wunsch, dass junge Menschen verschiedener Nationen sich kennen- und verstehen lernen sollen. Sein Interesse für die Außenpolitik und insbesondere für die afrikanische und arabische Welt kristallisierte sich heraus. 1966 wurde er Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Er gab das Amt jedoch zwei Jahre später auf, als die in der Krise steckende SPD einen starken Bundesgeschäftsführer brauchte. Wischnewski gilt als „einer der Väter der ersten sozialliberalen Regierung“ unter Willy Brandt und Walter Scheel.
Als Staatsminister im Auswärtigen Amt und im Bundeskanzleramt bewährte sich Wischnewski auch unter Kanzler Helmut Schmidt als diplomatische Geheimwaffe, als „Feuerwehrmann der Nation“. Wischnewski konnte dank seiner internationalen Kenntnisse und Kontakte sowie seines Verhandlungsgeschicks etliche terroristische Akte beenden. Am bekanntesten wurde er als der „Held von Mogadischu“, der 1977 in der somalischen Hauptstadt beim Drama um die von Palästinensern gekaperte Lufthansa-Maschine „Landshut“ die Befreiung der 90 noch lebenden Geiseln durch eine Anti-Terror-Einheit des Bundesgrenzschutzes erreichte. „Ben Wisch“, wie Willy Brandt den Nahostexperten einmal scherzhaft nannte, prägte nicht nur die sozialdemokratische Außenpolitik. Als stellvertretender Bundesvorsitzender und als Schatzmeister der SPD sorgte er sich immer auch um eine stabile SPD, forderte in der Partei und in der Innenpolitik Sparmaßnahmen und stieß hier bei seinen Genossen nicht auf Gegenliebe. 1985 trat er nach Differenzen mit dem damaligen Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel von seinen Parteiämtern zurück. Er bewährte sich aber weiterhin als Krisenmanager auf internationaler Ebene.
Verbindung mit Straubing
Mit Straubing blieb Wischnewski über seine Familie verbunden – seine Töchter wuchsen hier auf, eine Tochter blieb in der Nähe wohnen. Hierbei konnte Wischnewski dann auch überraschend auf Gut Eglsee auftauchen, an den Ort, an dem er nach den schlimmen Kriegserfahrungen eine erste Heimat erfahren hatte. Aus Sicherheitsgründen wurden die Besuche nicht angekündigt; Sohn Carl Beckmann erinnert sich besonders an einen dieser Besuche, als er in den Sommerferien, wohl 1965, vom Internat zu Hause war: Es gab plötzlich eine große Aufregung, eine schwarze Limousine mit dem Ständer der Deutschlandflagge an der Kühlerhaube und einer Bonner Nummer fuhr in den Hof, ein Mann mit dicker Brille stieg aus – es war Wischnewski. „Er war ganz natürlich, unkompliziert. Er war immer noch dankbar für die gute Aufnahme nach dem Krieg.“ Auf Gut Eglsee erinnert seit 14. September 2024 ein farbiges Kunstwerk, die „Hans-Jürgen-Wischnewski-Spitze“, geschaffen von Marcel Manche an den Politiker.
Zum 80. Geburtstag Wischnewskis 2002 schickten die Straubinger Sozialdemokraten Glückwünsche und es entwickelte sich wieder ein Kontakt insbesondere zu den beiden großen SPD-Frauen Helene Joringer, die Wischnewski als Parteisekretär erlebt hatte, und Hertha Neumeier. Wischnewski, der zur Konfirmation seines Urenkels in Straubing war, eröffnete trotz angeschlagener Gesundheit am 28. Mai 2004 die Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum des Ortsvereins Straubing und erinnerte an seinen Eintritt in die SPD: „In Straubing habe ich den Weg zur SPD gefunden …“, „dafür werde ich Straubing ewig dankbar sein“.
Wischnewski starb am 24. Februar 2005 in Köln nach einem Leben voller „Leidenschaft und Augenmaß“, wie er seine „politischen Memoiren“ betitelt hatte. Wischnewskis Appell am Ende seiner Autobiographie ist aktueller denn je: „Demokratie und Frieden bekommt man nicht geschenkt. Man muss immer daran arbeiten. Nicht nur Extremisten sind die Feinde der Demokratie. Auch die Gleichgültigkeit der Menschen und die Vergesslichkeit der Politiker sind Feinde der Demokratie. … Das Grundgesetz … ist die freieste Verfassung, die es jemals auf deutschem Boden gegeben hat. Man muss diese Verfassung mit Klauen und Zähnen verteidigen.“

Hans-Jürgen Wischnewski in Straubing, 29. Mai 2004, mit v. l. Helene Joringer, Hertha Neumaier und Hans Lohmeier (Foto Straubinger Tagblatt)
Dr. Dorit-Maria Krenn
Gerhard Michel – Maler seit 101 Jahren. Teil 3 Kunst im Bayerischen Wald

Kulturheimat: Wie muss man sich die Kunstszene im Bayerischen Wald während der Nachkriegsjahre vorstellen?
Michel: Es waren damals hier, in der engeren Umgebung, Maler, die sich zur Donau-Wald-Gruppe zusammengeschlossen haben, zum Beispiel Heinz Theuerjahr, Reinhold Koeppel und Hermann Erbe-Vogel, Walter Mauder, Wilhelm Niedermayer. Das waren die Leute, die die Gruppe aktiv vertreten haben. Also es war schon eine gewisse Aktivität da. Es gab da einen Grafenauer Notar, der hat die Gruppe finanziell über Wasser gehalten. Die Donau-Wald-Gruppe war damals schon eine bekannte Gruppe. Sie ist dann später von Wörlen betreut worden, der das Museum Moderner Kunst in Passau gestiftet hat. Mit Egon Wörlen bin ich auch sehr gut ausgekommen. Und dann haben ich 1966, da waren dann in der Zwischenzeit, durch den Zwieseler Buntspecht doch ziemlich viele Künstler beieinander, mit Oskar Langer, einem der Gründer des Zwieseler Buntspechts, gesprochen, dass es doch schade sei, dass nur die Donau-Wald-Gruppe besteht. Wir könnten doch versuchen hier eine regionale Gruppe aufzuziehen. Und dann haben wir das gemacht. Jeder hat in seinen Bereich geschaut und dann hat ein Wort das andere gegeben und zum Schluss war es dann so, dass wir, Hans Wölfl, Oskar Langer, Konrad Klotz, Josef Fruth, Karl Mader, Rupert Kamm, Hermann Eller, Erica Steppes und ich, am Josefitag (19. März) 1966, hier in Schönberg, die Gruppe aus der Taufe gehoben haben.
Kulturheimat: Waren die anderen denn auch im Nebenberuf Künstler?
Michel: Teilweise neben, teilweise hauptberuflich. Und weil ich halt Verwaltungsbeamter war, haben die anderen dann gesagt, ich muss der Geschäftsführer sein und die ganze Arbeit machen. Und so ist es dann 31 Jahre lang geblieben. Man muss sich vorstellen, was wir für Idealisten waren. Ich habe eine Aufwandsentschädigung als Geschäftsführer des Bayerwaldkreises, 25 Jahre lang, 50 DM im Jahr bekommen, im Jahr!
Kulturheimat: Nicht sehr üppig.
Michel: Das andere war, wir haben dann einen Fördererkreis gegründet. Die Mitglieder haben 30 DM im Jahr bezahlt, da hatten wir 30 Leute, also 900 DM. Bei den Ausstellungen, musste jeder, der etwas verkauft hat 10% in die Förderkasse einzahlen. Wir hatten eigene Podeste und Stellwände und haben im Lauf der Jahre in Bayern und ganz Deutschland, aber auch in Österreich und Böhmen Ausstellungen organisiert, insgesamt 71 Ausstellungen.
Kulturheimat: Was sind ihre Pläne für die Zukunft?
Michel: Ich bin jetzt 101 Jahre alt. Was soll ich jetzt überhaupt noch wollen. Ich will jetzt noch einige Arbeiten auf meine Weise. Erica Steppes hat immer gesagt: „Du hast ein Talent und das ist auch eine Pflicht! Mal nicht immer aus dem Bauch heraus, sondern mal mit dem Kopf. Und versuche mit deinen Bildern die Menschen zu erfreuen. Das ist deine Aufgabe.“ Und danach richte ich mich. Meine Probleme habe ich nie an die Wand gehängt. Es ist doch so: Wenn du eine Begabung hast, das ist nicht dein Verdienst. Da kann man nicht sagen, ich bin ein außergewöhnlicher Mensch. Ich kann vielleicht Sachen, die ein anderer vielleicht nicht kann. Aber das ist kein Grund zur Einbildung.
Kulturheimat: Haben Sie Vorbilder?
Michel: Ein Künstler ist kein Erfinder. Wir stehen immer auf den Schultern Anderer. Völlig unbewusst. Etwas Anderes ist es, wenn jemand einen Anderen bewusst kopiert. Aber natürlich, man hat Vorbilder. Maler von denen man beeindruckt war. Ich habe mich immer für Reinhold Koeppel begeistert. Der Koeppel stammte ja aus dem Harz, aus Oschersleben. Ich habe mich immer gewundert, warum sind die Künstler, die hier einen Namen haben von Außwärts? Koeppel, Erbe-Vogel aus Hof, Teuerjahr aus Pommern, etc. Es waren meistens Leute, die hier nicht heimisch waren. Das ist ja beim Tourismus dasselbe, nicht? Die Leute begeistern sich für eine Landschaft und Anderen fällt das gar nicht mehr auf. So war das bei mir auch mit dem Bayerischen Wald. Ich habe mich so für den Wald begeistern können. Ich war jedes Wochenende auf dem Lusen oben. Und der Keoppel hat den Wald in einer Art und Weise dargestellt, das kann man nicht nachmachen! Ich hatte genau den gleichen Eindruck. Wie der Koeppel den Wald erfasst hat, so habe ich ihn auch gesehen.
Kulturheimat: Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie eine gewisse Zeit verstärkt abstrakt gemalt haben?
Michel: Die abstrakte Phase ging bei mir los, wie ich nach Honduras gereist bin. Ich bin zuerst nach New York gekommen und habe die Skyline bei Nacht erlebt. Die Wolkenkratzer waren so ausgesprochen hässlich und da habe ich angefangen diese Schluchten zwischen den riesigen Häusern zu malen.
Kulturheimat: Ist es leichter ein gegenständliches Bild zu verkaufen als ein abstraktes?
Michel: Ich habe auch viele abstrakter Bilder verkauft. Man kann nicht sagen, dass die Leute nur Gegenständliches haben wollen. Ein abstraktes Bild ist immer ein geistiges Gebäude. Dass man Farben durcheinander schmiert, hat nichts mit Abstraktion zu tun. Ich habe bei meinen abstrakten Bildern immer einen kleinen realen Hintergrund gelassen, sodass es nie 100% abstrakt war, sondern vielleicht bloß 95%. Eine Zeit lang habe ich viel abstrakt gemalt, aber es muss irgendwie ein bisschen eine Kopfarbeit sein. Wenn einer aus dem Bauch heraus abstrakt malt, das ist eine Katastrophe. Aber: Gerade in Bezug auf die Kunst, da darf man nicht hergehen und darf meinen, jeder muss so malen wie man selbst. Toleranz ist die höchste aller Tugenden.
Vor 600 Jahren: Vergiftet! Herzog Johann III. und das Ende des Herzogtums Bayern-Straubing-Holland

Tulpen, Käse, Windmühlen, Meer und Grachten – Brezen, Leberkäs, Wald, Fluss und Gäu: Ungefähr 800 Kilometer liegen zwischen den Niederlanden und Niederbayern. Auf den ersten Blick haben die beiden Landschaften nicht viel gemeinsam. Und doch kann man in der Kirche St. Jakob in Straubing einem Mann in holländisch-burgundischer Mode begegnen, auf der gotischen Grabplatte des Kaufmanns Ulrich Kastenmayr. Umgekehrt grüßen zum Beispiel in der Oude Kerk von Delft die vertrauten weißblauen Rauten aus den Kirchenfenstern. Fast 75 Jahre lang, von 1353 bis 1425, gingen die heute niederländischen Provinzen Holland, Seeland und Friesland, das belgisch-französische Hennegau und ein Großteil Niederbayerns ein Stück Wegs gemeinsam: im Herzogtum Bayern-Straubing-Holland.
Das Herzogtum Bayern-Straubing-Holland
Am 3. Juni 1353 teilten im „Regensburger Vertrag“ die niederbayerischen Herzöge Stephan II., Wilhelm I. und Albrecht I. ihr niederbayerisches Erbe, „ir Land, ir lewt, pirg, stet und gemainlichen all ir gült“, das sie nach dem Tod ihres Vaters Ludwig IV. des Bayern, römischer Kaiser, deutscher König und bayerischer Herzog, gemeinsam erhalten und verwaltet hatten. Stephan übernahm die Regentschaft im südwestlichen Niederbayern mit Landshut als Hauptstadt. Wilhelm und Albrecht bekamen zu ihren niederländischen Erbteilen, die ihnen von ihrer Mutter Margaretha von Hennegau-Holland, der zweiten Gemahlin Kaiser Ludwigs, her zustanden, das nordöstliche Niederbayern. Das Herzogtum Bayern-Straubing-Holland war geboren.
Es umfasste im Norden die Grafschaften Hennegau, Holland, Seeland und die Herrschaft Friesland, in Niederbayern reichte es von Dietfurt im Altmühltal bis nach Schärding im Innviertel, von Furth im Wald an der böhmischen Grenze bis nach Dingolfing an der Isar. Die Zeit dieses wittelsbachischen Herzogtums, das mit dem Tod Herzogs Johann III. im Jahr 1425 endete, bedeutete für beide Landesteile eine politische, wirtschaftliche, kulturelle Blütezeit. In Straubing zum Beispiel, der niederbayerischen Residenzstadt, wurden fast alle bedeutenden Baudenkmäler in dieser Periode grundgelegt: Herzogsschloss, Kloster und Kirche der Karmeliten, Pfarrkirche St. Jakob, Votivkirche St. Veit, Rathaus. In Holland gelang es den wittelsbachischen Herzögen die innenpolitischen Spannungen zu beruhigen, die Verwaltung zu reformieren, wichtige wirtschaftliche Impulse zu geben. Das bis dahin unbedeutende Den Haag (s’Gravenhagen), das Albrecht I. zu seiner Residenz wählte, erhob sich zum politischen und kulturellen Zentrum.
Johann III. „ohne Gnade“
Johann, geboren 1373 oder 1374 in Le Quesnoy (damals Grafschaft Hennegau, heute Frankreich), war nach Wilhelm und Albrecht der dritte und jüngste Sohn des regierenden Herzogs Albrecht I. und dessen Frau Margarethe von Liegnitz-Brieg. Während Wilhelm für die Nachfolge in den nördlichen Territorien vorgesehen war und Albrecht Herrscher in Niederbayern werden sollte, war für Johann die geistliche Laufbahn bestimmt.
Er wurde zunächst Domprobst von Köln, dann am 14. November 1389 auf Betreiben seines Vaters Albrecht zum Bischof von Lüttich gewählt. Das ausgedehnte Bistum war aufgrund seiner günstigen Lage zwischen Hennegau, Luxemburg und Brabant für die holländischen Wittelsbacher wichtiges Einflussgebiet. Johann, der sich nie zum Priester, sondern nur zum Subdiakon weihen ließ und daher als „episcopus electus“, als gewählter, vom Papst bestätigter Bischof, amtierte, stieß jedoch auf große Widerstände in den Lütticher Handwerks- und Gewerbeständen. Diese befürchteten, dass der machtbewusste, höfischen Prunk liebende Johann das Bistum zu einem weltlichen Fürstentum umwandeln wollte, und pochten auf ein politisches Mitspracherecht. Die langwierigen Auseinandersetzungen gipfelten im September 1408 in der blutigen Schlacht bei Othée, in der holländische, hennegauische, burgundische und bayerische Soldaten für Johann siegten. Das grausame Strafgericht, das der Bischof und seine Mitstreiter gegen die aufständischen Bürger und Priester verhingen, brachte ihm den Beinamen „Ohnegnade“ ein.
Johann war eine schillernde Persönlichkeit. Er wird sowohl als „stahlharte Natur“ (Friedrich Schneider) mit politischem Scharfblick wie als „glänzender Ritter“ und „Freund der Wissenschaften und Künste“ (Theodor Straub) charakterisiert; er war beispielsweise der erste Förderer des berühmten Malers Jan van Eyk. Nach dem frühen Tod seines Bruders Albrecht im Januar 1397 verwaltete er für seinen Vater auch das niederbayerische Territorium mit, dessen Landesherr er dann beim Tod Albrechts I. 1404 wurde.
Obwohl die „fürsten in der ferne“ (Dick de Boer) ihren niederbayerischen Landesteil vor allem mit Hilfe von Viztumen und Pflegern regierten, sorgten sie für politische Stabilität, wirtschaftliche Förderung und kulturellen Aufschwung. Niederbayern und die Hauptstadt Straubing, die Johann nachweislich sechsmal, zumeist in den Wintermonaten, besuchte, waren für die Wittelsbacher ein wichtiges Verbindungsglied zum deutschen König in Prag und zum Papst in Rom sowie ein wertvolles Reservoir an Geld und Mensch. In Straubing hat Johann III. mit dem Rittersaal im Herzogsschloss und dem Hochgrab für seinen Bruder Albrecht II. in der Karmelitenkirche eine eindrucksvolle Demonstration seines Herrscherwillens und seines fürstlichen Selbstverständnisses hinterlassen. In Dingolfing ließ er z.B. die Herzogsburg ausbauen, in Schärding die Stadtmauer erneuern. Als sein Bruder Wilhelm, Herrscher in Hennegau, Holland, Seeland und Friesland, am 31. Mai 1417 überraschend verstarb, gab Johann sein Bistum auf. Er erhob gegen die von ihrem Vater eingesetzte Erbin Jakobäa Anspruch auf die Herrschaft. Zugleich heiratete Johann Elisabeth von Görlitz, Witwe des Herzogs von Brabant und Nichte des deutschen Königs Sigismund, die die Grafschaft Luxemburg mit in die Ehe brachte. Zwischen Jakobäa und ihrem Onkel Johann brach ein heftiger Erbfolgestreit aus. König Sigismund, der unter Jakobäa eine Zunahme des burgundisch-französischen Einflusses fürchtete, belehnte Johann mit Holland, Seeland und Friesland. Damit war auch das Herzogtum Bayern-Straubing-Holland wieder vereint. Der letzte männliche Vertreter des Herzogshauses Bayern-Straubing-Holland erlag aber am Dreikönigstag, dem 6. Januar 1425 einem Mordanschlag. Sein ehemaliger Hofmarschall Jan van Vliet soll ihm die Seiten seines Gebetbuches mit Gift bestrichen haben, und Johann hatte „die unhygienische Gewohnheit mit Spuckefingern die Blätter umzuschlagen“ (Dick de Boer).
Niederbayern „in vier tail gemacht“
Nach dem Tod Johanns kämpfte im Norden dessen Nichte Jakobäa erfolglos mit dem Herzog von Burgund um ihr Erbe. Holland, Seeland, Friesland und Hennegau kamen 1433 zum Burgunderreich. Im Süden stritten die bayerischen Wittelsbacher um den niederbayerischen Landesteil. 1429 wurde er schließlich unter die Herzöge von Bayern-München, Bayern-Landshut und Bayern-Ingolstadt per Los aufgeteilt. Herzog Ludwig VII. von Ingolstadt erhielt u.a. Schärding, Dingolfing, Kirchberg, Waldmünchen. Herzog Heinrich XVI. von Landshut bekam neben anderen Orten Vilshofen, Hilgartsberg, Hengersberg, Natternberg und Landau. Herzog Wilhelm III. von München erloste u.a. Kelheim, Dietfurt, Eschlkam, Furth, Kötzting, Cham und Deggendorf. „Das ander viertail, Straubing, die stat mit der vesten daselbs mit maut und kasten, Glayt, Vyscherey, Wysmad, Lehenschafft und mit dem lantgerichte daselbs und allen sein zugehoren“ sowie dazu Mitterfels, Bogen, Haidau, der Herzogshof und die Münze zu Regensburg gingen an Herzog Ernst I. von München.
Der „Tailzedl“ vom 9. Juli 1429 hielt das Ergebnis fest: „Nota wie man ainen tail an dem Nyderlannd in Beyrn in vier tail gemacht hat“. Die territoriale Zersplitterung Bayerns hatte damit ihren Höhepunkt erreicht – und eine ganz besondere Epoche in der (nieder)bayerischen Geschichte war endgültig zu Ende.
Literaturhinweis:
Kurz und bündig informiert Dorit-Maria Krenn/Joachim Wild, „fürste in der ferne“. Das Herzogtum Niederbayern-Straubing-Holland 1353-1425, Augsburg 2003 (Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur 28); ausführlicher über den niederbayerischen Landesteil Markus Retzer, Die Verwaltung des Herzogtums Niederbayern-Straubing-Holland, Regensburg 2020.
Dr. Dorit-Maria Krenn
Lesung in der Artothek Niederbayern

Ende November hat die Artothek Niederbayern eröffnet. Dort wird die Kunstsammlung des Bezirks Niederbayern aufbewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Kunstwerke verschiedener Gattungen (Malerei, Skulptur, Grafik) können hier kostenfrei ausgeliehen werden. Darüber hinaus gibt es regelmäßig Veranstaltungen. Etwa am Freitag den 10. Januar 2025 um 18:30 Uhr: Dieter Lohr stellt seinen Roman „Ohne Titel. Aquarell auf Karton. Unsigniert“ zusammen mit seiner Regensburger Schriftstellerkollegin Angela Kreuz in einer szenischen Lesung vor.
Dieter Lohr ist Schriftsteller, Hörspielautor, Hörbuch-Verleger und Dozent für Medienwissenschaft sowie Deutsch als Fremdsprache. Er studierte Neuere Deutsche Literatur, Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Konstanz und jobbte während seines Studiums unter anderem als Journalist, Reiseführer und seit seinem Zivildienst etliche Semesterferien lang immer mal wieder in der Psychiatrie. Seine erste Buchpublikation, die Reiseerzählung „Der Chinesische Sommer“ erschien 1999, es folgten drei Erzählbände und zwei Romane. Dieter Lohr erhielt für sein schriftstellerisches Schaffen zahlreiche Preise und Stipendien. Er lebt, schreibt und arbeitet in Regensburg.
Sein Roman handelt vom Leben des Künstlers Alfred Seidl (1893-1960), der in den 1930er Jahre in der Psychatrie der Regensburger Heil- und Pflegeanstalt Karthaus-Prüll untergebracht war. Sein Bruder Florian (1893-1972), ein gefeierter Nazi-Schriftsteller, rettet ihn schließlich trotz seiner „rassenhygienischen“ Gesinnung gegen Ende des „Dritten Reichs“ in letzter Minute vor dem Abtransport in eine „Tötungsanstalt“. Der Roman besteht zum Teil aus Zitaten und Textpassagen von Künstlern, Ärzten, Theologen, Politikern und Schriftstellern, aus teils fiktiven, teils realen Briefen und Tagebucheinträgen. Auch Alfreds innere Stimme − „Vincent“ − lenkt das Geschehen. Richtig sicher kann man sich nie sein, was real, was erfunden ist. So, wie man auch bei einem Kunstwerk nur dann genau weiß, ob es echt ist oder nicht, wenn man es selbst geschaffen hat. Oder gefälscht. Und selbst dann nicht immer.
„Es wird scho gleih dumper“ – Wie macht man aus einem Marienlied ein Weihnachtslied?

Das Weihnachtslied „Es wird scho glei dumpa“ ist eines der beliebtesten Weihnachtslieder. Dabei ist das Lied gar nicht so alt. Den Text hat, wie der österreichische Heimatforscher Alfred Herrmüller vor kurzem herausgefunden hat, der katholische Pfarrer Anton Reidinger (1839-1912) vor genau 140 Jahren, im Jahr 1884 verfasst. Was die Musik angeht, hat er auf ein altes Kirchenlied zurückgegriffen. Dass man einem Lied einen neuen Text verpasst, ist eine gängige Praxis. Das gleiche ist zum Beispiel bei „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ und „Zu Bethlehem geboren“ passiert. „Es wird scho glei dumpa“ ist für Aufführungen des traditionellen Krippenspiels im Salzburger Land gedacht, um dessen Wiederbelebung sich Reidinger bemüht hat.
Die Melodie, die er verwendet, ist die des schlichten Marienlieds „Maria zu lieben, ist allzeit mein Sinn“, das erstmals Mitte des 18. Jahrhunderts in Gesangbüchern erscheint. Das Lied ist für den Gemeindegesang extra leicht und schlicht gesetzt. Und das hat auch seinen Sinn, denn in diesem Lied geht es nicht so sehr um die Melodie, sondern um den Text: Die Melodie spielt hier nicht die Hauptrolle, sondern der Lobpreis Mariens. Wie man am Notenbeispiel ganz leicht erkennen kann, ändert Reidinger nichts an dem harmonischen Fundament, das sich auf die erste und die fünfte Stufe beschränkt. Aber er verändert die Melodie, denn aus dem Kirchenlied, bei dem der Subtext, die Marienverehrung, im Zentrum steht, muss ja ein volkstümliches Wiegenlied bzw. Hirtenlied werden, bei dem anders als beim Marienlied die Melodie und nicht so sehr der Text eine wichtigere Rolle spielt.
Im Marienlied bildet das Wort „allzeit“ bzw. „Diener“ auf dem Spitzenton d‘‘ den Höhepunkt des ersten Verses. Die Schlüsselworte „Maria“, „lieben“, „allzeit“ und „Sinn“ stehen immer am Taktanfang und auch das hat seinen Sinn, denn im Dreivierteltakt ist, was das Metrum angeht, der erst Schlag der gewichtigste. Die Symmetrie des Marienlieds aber opfert Reidinger – zurecht, denn sein Text ist profaner, nicht schlicht, sondern, zumindest am Anfang, simpel. Also muss die Melodie reizvoller werden. Und deswegen führt Reidinger zum Beispiel gleich in Takt zwei einen punktierten Terzsprung ein. Warum? Im Marienlied ist beim Schlüsselwort „lieben“ keine melodisch auffallende Verzierung angebracht, die den Text stört. Im Wiegenlied der Hirten hingegen fällt das Schlüsselwort weg und eine Repetition wie im Original wäre einfach langweilig, weil der Subtext fehlt. In Reidingers Vorlage kommen Intervallsprünge (bis auf den Quartsprung zu Anfang und den absteigenden Terzgang in Takt drei) erst im bewegteren Mittelteil vor. Im Marienlied ist das ein sanftes Stilmittel, um wenigstens einen kleinen Kontrast zur Schlichtheit des Anfangsverses zu bilden. Dieser sanfte Kontrast fällt nun weg, weil Reidinger bereits den Anfangsvers melodisch bereichert hat und den Mittelteil ohne Änderungen übernimmt. Auch die Wiederkehr des Anfangs übernimmt er, fügt jedoch einen völlig neuen Schlussteil mit dem Text „hei, hei, hei, schlaf süß du schön’s Kind“ hinzu. Dass diese Coda nötig ist, liegt an Reidingers Änderung in Takt drei: Hier hat er statt der vom Spitzenton absteigenden Bewegung des Originals, der eine natürliche Schlusswirkung innewohnt, auf Zählzeit eins und zwei den Ton c‘‘ wiederholt, eine Konsequenz aus der Änderung im Takt davor, denn Reidinger hat das Potential des Spitzentons bereits in Takt zwei verschenkt und kann ihn aus dramaturgischen Gründen in Takt drei nicht noch einmal bringen. Weil also die natürliche Schlusswirkung des dritten Taktes nicht mehr funktioniert, hat sich Reidinger einen Schluss, mit aufgeregt hin- und herspringenden Quint- und Terzsprüngen, ausgedacht, die gar nicht zur mehr linearen Bewegungsweise des Lieds passen.
Hat Reidinger nun das Original verpfuscht? Nein, denn die Intention beider Lieder ist völlig unterschiedlich: Das Original ist ein in seiner Schlichtheit rührendes Marienlied, und Reidingers Bearbeitung ein leutseliges, etwas aufgezäumtes Wiegenlied für ein Krippenspiel. Dieser kleine Beitrag soll Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auch gar nicht das zu Recht beliebte Weihnachtslied vermiesen, sondern nur darauf hinweisen, wie schwer es doch ist, für eine Melodie einen anderen Text zu finden, denn Text und Melodie sind enger verbunden als man meint.
Foto: Alfred Herrmüller
Christoph Goldstein