Ode an die Freude – 250. Geburtstag eines „schlechten Gedichts“

Als Schiller im Frühjahr 1785 auf Einladung eines seiner Bewunderer, Christian Gottfried Körner (1756-1831) später Herausgeber der ersten Schiller-Gesamtausgabe, nach Leipzig reist, flieht er vor allem vor seinen Schulden. Weil sein 1783 geschlossener Vertrag als Theaterdichter am Mannheimer Theater ausläuft und Schiller bis über beide Ohren in Schulden steckt, sieht er keine andere Möglichkeit als die Flucht. Seine Lage ist derart schwierig, dass er fast im Schuldturm gelandet wäre. In Leipzig wird Schiller von Körner und seinem Freundeskreis herzlich aufgenommen. Er wohnt zeitweise auch in Körners Haus in Leipzig, aber vor allem ab September 1785 in dessen Weinberghaus in Loschwitz bei Dresden. Dank Körner kann er in Leipzig und Dresden frei von materiellen Sorgen u.a. an seinem Drama Don Carlos weiterarbeiten und außerdem viele wichtige Beziehungen knüpfen. Als Ausdruck von Schillers tiefempfundener Dankbarkeit zu seinem Freund und Mäzen Körner, entstand im Sommer 1785, wohl noch in Leipzig, die berühmte Ode an die Freude. In diesem Gedicht, obwohl ein ganz spontaner Ausdruck der Dankbarkeit, das auch Züge eines Trinklieds nicht vermissen lässt („Brüder, fliegt von euren Sitzen, Wenn der volle Römer kreist, Laßt den Schaum zum Himmel sprützen: Dieses Glas dem guten Geist“), formuliert Schiller ebenjene Gedanken, die vier Jahre später zur französischen Revolution führen, gleich in der ersten Strophe:

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was der Mode Schwert geteilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

Der geneigte Leser, die geneigte Leserin wird sich an dieser Stelle denken, „Moment, das ist nicht die Ode an die Freude, die ich kenne!“ Und das stimmt, denn die erste, 1786 gedruckte Fassung unterscheidet sich in entscheidenden Details von der von Schiller 1803 revidierten Fassung, die heute bekannt ist. Es scheint fast so, als habe sich Schiller für seinen Enthusiasmus des Jahres 1785 nachträglich geschämt, denn aus den Versen

Was der Mode Schwert geteilt;
Bettler werden Fürstenbrüder

wird später:

Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,

Und die letzte Strophe der ersten Fassung

Rettung von Tyrannenketten,
Großmut auch dem Bösewicht,
Hoffnung auf den Sterbebetten,
Gnade auf dem Hochgericht!
Auch die Toten sollen leben!
Brüder trinkt und stimmet ein,
Allen Sündern soll vergeben,
Und die Hölle nicht mehr sein.

streicht Schiller sogar komplett.

In einem Brief an Körner (Oktober 1800), 15 Jahre nach der Entstehung, schreibt Schiller sogar, das Gedicht sei schlecht:

„Die [Ode an die] Freude hingegen ist nach meinem jetzigen Gefühl durchaus fehlerhaft und ob sie sich gleich durch ein gewißes Feuer der Empfindung empfiehlt, so ist sie doch ein schlechtes Gedicht und bezeichnet eine Stufe der Bildung, die ich durchaus hinter mir lassen mußte um etwas ordentliches hervorzubringen. Weil sie aber einem fehlerhaften Geschmack der Zeit entgegenkam, so hat sie die Ehre erhalten, gewissermaaßen ein Volksgedicht zu werden. Deine Neigung zu diesem Gedicht mag sich auf die Epoche seiner Entstehung gründen; aber diese giebt ihm auch den einzigen Werth, den es hat, und auch nur für uns und nicht für die Welt noch für die Dichtkunst.“

In seinem eigenhändigen Werkverzeichnis hat Schiller das Gedicht lange absichtlich ausgelassen, obwohl die Ode an die Freude nicht nur heute, sondern schon zu Schillers Zeit ausgesprochen beliebt war, etwa als Studentenlied, und zahlreiche Vertonungen vorliegen. Heute ist fast ausschließlich die 1824 von Ludwig van Beethoven unternommene Vertonung bekannt, obwohl zum Beispiel Franz Schubert die Ode an die Freude bereits 1815 in der Besetzung für Singstimme und Klavier vertont hat:

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Beethoven hat bereits 1793 und später immer wieder erwogen Schillers Gedicht in Töne zu setzen. 1812 schreibt er in eines seiner Skizzenbücher:

„Freude schöner Götterfunken – Ouvertüre ausarbeiten […] abgerissene Sätze wie Fürsten sind Bettler u.s.w. – nicht das Ganze“

Nach seiner achten Sinfonie wollte Beethoven eigentlich keine Sinfonie mehr schreiben. 1817 erreichte ihn jedoch ein Auftrag der Londoner Philharmonic Society, die Beethoven um die Komposition zweier Sinfonien und deren Uraufführung in London bat. Aber es dauert bis 1822 bis Beethoven, der mit den drei letzten Klaviersonaten und der Missa solemnis beschäftigt ist, dazu kommt im Kurort Baden bei Wien an den ersten drei Sätzen der 9. Sinfonie zu arbeiten, die er 1823 vollendet. Gegenüber der für uns heute wie selbstverständlich scheinenden Idee, den vierten Satz mit einem Chorfinale (Freude schöner Götterfunken) enden zu lassen, ist Beethoven während der Komposition in starke Zweifel geraten. Immer wieder denkt er über ein instrumentales Finale nach, sogar noch nach der Uraufführung am 7. Mai 1824. Dieses Chorfinale ist seit der Uraufführung bis heute ein großer Streitpunkt. Für den Komponisten Louis Spohr (1784–1859), ein Zeitgenosse Beethovens, ist es „monströs und geschmacklos und in seiner Auffassung der Schillerschen Ode […] trivial“. Der Dichter Ludwig Rellstab (1799–1860), der als Konzertberichterstatter über die Erstaufführung Ende November 1827 in Berlin schreibt, lobt besonders den zweiten Satz, das Scherzo, mit Abstrichen auch den ersten und dritten Satz, der vierte Satz hingegen sei problematisch:

„[V]om letzten Satz müsse man sagen, daß er an barocker Seltsamkeit alles überbietet, woran uns unser, an solchen Leistungen nicht arme Zeit, bisher zu gewöhnen gesucht hat. Es mischt sich aus dem Styl der ernsteren Kirchenmusik und der Opera buffa, und die Instrumentation trägt noch stets dazu bei, das Auffallende noch auffallender, das Unbegreifliche noch unbegreiflicher zu machen.“

Rellstab, der äußerst bewundernd über die dritte und fünfte Sinfonie geschrieben hat, formuliert hier das Grundproblem des vierten Satzes, denn Beethoven sprengt einerseits die Form der Sinfonie und „spricht“ auf der anderen Seite die Botschaft, die in der absoluten Instrumentalmusik steckt, die sich aber sonst unausgesprochen mitteilt (so wie etwa in der fünften Sinfonie das Motiv „per aspera ad astra“) ganz konkret aus. Beethoven versucht also im vierten Satz das Unsagbare auszusprechen. Zumindest die Utopie der revolutionären Gedanken Schillers, durch das Pathos des Chrofinales noch verstärkt, war 1824, zur Zeit der Restauration und des Metternichschen Überwachungsstaates noch viel größer als zur Zeit Schillers.

Christoph Goldstein

 

Fotos:

https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_van_Beethoven#/media/Datei:Beethoven.jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Schiller#/media/Datei:Friedrich_Schiller_by_Ludovike_Simanowiz.jpg

Kulturelle Sommerferientipps

Tor zur Hölle?

Früher haben die Menschen, weil sie dort, schenkt man einer uralten Sage Glauben, das Tor zur Hölle vermuteten (deswegen auch der Name Höllbachgspreng) diese Stelle gemieden. Heute kommen hier jedes Jahr viele tausend Wanderer auf ihr Weg zum Großen Falkenstein vorbei. Das Höllbachgspreng ist schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts für die Forstwirtschaft tabu und so hat sich mit der Zeit hier allmählich eine Art Urwald entwickelt. Richtige Urwälder, das sind Wälder, die sich vollkommen ohne den Einfluss des Menschen entwickelt haben, gibt es allerdings bei uns nicht mehr. Trotzdem ist die Wanderung auf den Großen Falkenstein immer ein Vergnügen und auch gar nicht anstrengend, vielmehr sehr abwechslungsreich, vor allem dann, wenn man den Rückweg über die Ruckowitzschachten nimmt. Schachten sind uralte Wiesen, auf denen jahrhundertelang das Vieh geweidet hat. Der Name Ruckowitzschachten hat einen lustigen Ursprung: Vermessungsbeamte, des kniffligen Dialekts unkundig, haben sich von der Bezeichnung „Ruckawies“, die nur Einheimische verwenden, Irre führen lassen und aus „Ruckawies“ „Ruckowitz“ gemacht.

Wenn der Sommer mal Pause macht…

…lohnt es sich, bis das Wetter vielleicht wieder besser wird, einen Blick in ein hochinteressantes Buch zu werfen und einen Fluss, nämlich die Vils, auf eine ganz neue Weise zu entdecken. Doris Seibold ist den insgesamt 110 Kilometer langen Flusslauf zu Fuß gegangen und hat aus dieser Reise einen beeindruckenden Bildband gemacht mit viele Fotos und Texten gemacht. Unter anderem verfolgt sie die Vils bis zur Quelle. Das ist eine doppelte Arbeit, denn die Vils hat zwei Quellen, nämlich die große und die kleine Vils. Auf dem Weg vom Ursprung zur Mündung in die Donau bei Vilshofen, kommt man an vielen bedeutenden Orten vorbei, wie zum Beispiel den Schlössern in Gerzen und Aham, die Carl Joseph Franz de Paula Hieronymus Graf von Montgelas (1759–1838) im Jahr 1833 erworben hat. In der Gruft von Schloss Aham ist der berühmte Staatsreformer zur Ruhe gebettet, der Bayern unter Maximilian I nach französischen Vorbild zu einem modernen Staat gemacht hat.

Doris Seibold: Vom Zauber der Vils. Meine Herzenswege von der Quelle bis zur Mündung, Aurisium-Verlag, 130 Seiten

Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Urwald_am_H%C3%B6llbachgspreng.JPG

Volksmusikpicknick im Landshuter Prantlgarten

Große und kleine Musikliebhaber treffen sich beim Picknick im Grünen: Das Volksmusikpicknick des Bezirks Niederbayern bietet die Gelegenheit zum Musik hören, Tanzen, Schauen und Genießen! Kaffeetanten & Radi-Esser, Musikanten & Tänzer, Jung & Alt sind willkommen. Wer möchte, nutzt die idyllische Tanzgelegenheit unter freiem Himmel zum Ausprobieren von Walzer, Polka oder einem Zwiefachen, oder man beobachtet schlicht das bunte Treiben, genießt das schöne Ambiente auf der Wiese vor dem KOENIGmuseum und nascht aus seinem Picknickkorb.

Für Neulinge werden in einem Blitz-Volkstanzkurs die wichtigsten überlieferten Tanzschritte erklärt. Verpflegung, Picknickdecke und Sonnenschirm müssen selbst mitgebracht werden. Der Bezirk Niederbayern macht mit der Veranstaltung neugierig auf musikalische Überlieferungen aus der Region, die auch heute noch begeistern. Ebenso präsentiert der musikalische Nachmittag traditionelle Musik aus anderen Kulturkreisen, die in unserer Region Einzug genommen haben.

Heuer findet das Picknick am Sonntag, 3. August 2025, von 14 bis 18 Uhr im Landshuter Prantlgarten (Wiese vor dem Koenigmuseum), Prantlgarten 1, 84028 Landshut statt.
Es spielen der Niederbayerische Musikantenstammtisch und die UkrBand. Versierte Spieler dürfen ihr Instrument mitbringen und spielen mit dem Niederbayerischen Musikantenstammtisch mit!

Der Eintritt ist frei.

Der Niederbayerische Musikantenstammtisch spielt seit mehr als 20 Jahren auf, am Tanzboden und im Wirtshaus, auf Festen und – wie bei uns – auf der grünen Wiese. Die Gruppe überzeugt mit ihrer Musizierlust auch diejenigen, die mit Volksmusik bisher nichts am Hut hatten. Angetan haben es den Musikanten die Tänze: Landler, Schottische, Dreher und die schönsten Zwiefachen landauf und landab. Die UkrBand wiederum ist eine relativ neue Musikgruppe, die von ukrainischen Berufsmusikern gegründet wurde. Sie spielen virtuos auf Geige, Bandura (eine ukrainische Lautenzither), Akkordeon und Bass-Balalaika. Die Gruppe spielt verschiedene Musikstile, beim Volksmusikpicknick ist sie mit ukrainischem Folk vertreten. Auch die kleinen Besucher sind herzlich willkommen, zwischendurch werden Spiellieder für Kinder gesungen und getanzt.

Veronika Keglmaier
Foto: Peter Litvai

Die Roteiche – Baum der Zukunft?

Die Roteiche (Quercus rubra) ist der Baum des Jahres 2025. Was hat dieser Baum, der in den Nadel- und Laubmischwäldern im Osten Nordamerikas zu Hause ist und dessen Verbreitungsgebiet von den Prärien bis an die Atlantikküste und von der kanadischen Taiga bis zum Golf von Mexiko reicht mit unseren Wäldern hier in Niederbayern und Deutschland zu tun? Zu wenig, denn bei uns kommt der Baum gar nicht so oft vor. Kein Wunder, denn er ist ja in Nordamerika zu Hause. Jedoch ist die Roteiche, da sich die Wälder wegen der gestiegenen Temperaturen verändern müssen, vielleicht der Baum der Zukunft. Er könnte sogar, da er sehr anspruchslos ist, eine Alternative zu den uns weit verbreiteten Kiefern sein, da er sogar auf sandig-lehmigem Untergrund prächtig gedeiht.

Wann ist die Roteiche überhaupt zu uns gekommen?

Vor etwa 300 Jahren ist der Baum, über Frankreich nach Deutschland gekommen. Zunächst wurde die Roteiche vor allem in Parks, Gärten und herrschaftlichen Alleen angepflanzt, als exotische Rarität. Das holz- und forstwirtschaftliche Interesse hat die Roteiche damals noch nicht geweckt. Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet sie sich allmählich auch in ganz normalen Wäldern. Heute ist sie in ganz Europa und in Skandinavien, Spanien, Italien, England, dem Balkan etc. weit verbreitet. Aber auch in städtischen Grünanlagen, Parks und auf Friedhöfen ist die Rot-Eiche auch bei uns schon lange nicht mehr wegzudenken und bereichert dort das herbstliche Farbenspiel der Baumkronen.

Wie hoch kann eine Roteiche werden?

Die Roteiche wird freistehend um die 25 Meter hoch, in dichteren Wäldern sogar bis zu 35 Meter. Ihre Krone ist in jüngeren Jahren wie ein Kegel geformt. Bei freistehenden Bäumen entwickelt sie sich mit zunehmendem Alter eher in die Breite. Die größte Roteiche in Deutschland befindet sich in der Nähe von Dresden. Sie steht im Schlosspark von Nöthnitz. Ihr Umfang beträgt fast sieben Meter. Ihr Alter ist leider unbekannt, sie wird aber auf etwa 175 Jahre geschätzt.

Wie kann man eine Roteiche erkennen?

Das auffälligste Erkennungsmerkmal der Roteiche sind ihre langstieligen, recht großen, spitz gelappten Blätter (ungefähr 20 bis 25 cm, gelegentlich auch etwas größer), wobei der Rand der einzelnen Lappen mit unregelmäßig verteilten kleinen spitzen Zähnchen besetzt ist. Im späten Herbst werden die Blätter tiefrot. Deshalb sind sie in den nördlichen Regionen Amerikas zum Großteil an der Farbenpracht des berühmten „Indian Summers“ beteiligt.

Baum der Zukunft?

Als Alleebaum im Ort, aber auch an Landstraßen, ist die Rot-Eiche, weil sie fast gar nicht empfindlich auf Streusalz reagiert, besonders geeignet, auch in Zukunft, denn sie ist überaus trockenheitstolerant und wird mit steigenden Temperaturen gut zurechtkommen. Im Vergleich zur Stieleiche bietet sie jedoch für Insekten keinen so guten Lebensraum, was Untersuchungen der Artenvielfalt in den Baumkronen gezeigt haben. Das Holz der Roteiche ist auch zum Bauen geeignet, zudem als Furnier- und Möbelholz und im Innenausbau. Der größte Vorteil der Roteiche ist aber, dass sie dank der Evolution in ihrer amerikanischen Heimat, Waldbrände in den ausgedehnten, auf sandigen Böden stehenden Kiefern-Kulturen bremsen bzw. stoppen kann. Warum? In breiten, dicht bepflanzten Streifen zwischen den Kiefernbeständen kann die schwer entzündliche Belaubung der Rot-Eichen die Ausbreitung eines Feuers über die Baumkronen verhindern. Die geringe Bodenvegetation sowie die schwer brennbare, dichte Laubstreu unter den Roteichen können die Ausbreitung eines Bodenfeuers stark verlangsamen, sodass mehr Zeit für das Eindämmen des Feuers bleibt.

Helmut Wartner
Foto: Uschi Dreiucker https://pixelio.net/de/media/610687-herbstleuchten-2

Aus dem KZ zur Zeitungslizenz

Über 90 Bewerber versuchten nach dem Kriegsende 1945 von der amerikanischen Militärregierung die Lizenz für eine Zeitung in Regensburg zu erhalten. Der Erhalt einer Zeitungslizenz versprach in einer Zeit ohne Fernsehen und Radio Macht und einen enormen finanziellen Gewinn. Durchsetzen konnte sich der Sozialdemokrat Karl Friedrich Esser, der damit einer der ersten Verleger in Bayern wurde. Zunächst sollte die entstehende Zeitung die kompletten Regierungsbezirke Oberpfalz und Niederbayern abdecken, weshalb auch der Kunstbegriff „Mittelbayerische Zeitung“ gewählt wurde.

Der Weg zur eigenen Zeitung war für Esser während der NS-Zeit mit viel Leid verbunden gewesen. Geboren wurde Esser am 25.2.1880 in Landau in der Pfalz. Nach einem Studium in München arbeitete er als bayerischer Finanzbeamter. 1922 übernahm er den Ortsvorsitz der SPD in Regensburg, 1925 erlangte er einen Sitz im Stadtrat. Obwohl er kein ausgebildeter Journalist war, sammelte Esser parallel journalistische Erfahrungen. Er schrieb über 500 Artikel für die sozialdemokratischen Zeitungen „Volkswacht für Oberpfalz und Niederbayern“ und die „Neue Donaupost“.

Nach der Machteinsetzung der Nationalsozialisten verlor Esser als SPD-Fraktionsvorsitzender im Stadtrat und führendes Gewerkschaftsmitglied direkt seine Stelle. Er kam bereits im März 1933 für kurze Zeit ins Konzentrationslager (KZ) Dachau, aus dem er wenige Tage darauf entlassen wurde. Anfang Juli 1933 wurde er erneut verhaftet und als letzter der Regensburger Sozialdemokraten erst am 21.3.1934 freigelassen. Im KZ musste er unter anderem im August und September 1933 mit 50 anderen Häftlingen beim Straßenbau mitarbeiten. Mit bloßen Händen mussten sie eine Straßenwalze ziehen.[1]

Esser war danach gezwungen Regensburg zu verlassen und zog nach München, wo er bis 1944 als Steuerfachmann arbeitete. Obwohl er bereits 1933 aus der SPD ausgetreten war, wurde er häufig schikaniert, wie zum Beispiel durch Hausdurchsuchungen und Gestapovorladungen. Sein Engagement gegen die NSDAP und die Völkischen hatte bereits 1920 begonnen und war von den Nazis nicht vergessen worden. So hatte er unter anderem Waffen für den Reichsbanner Schutz der demokratischen Republik organisiert. Zudem war er bei der Wehrsportausbildung beteiligt. Hinzukommend hatte er noch im Februar 1933 als einer der Organisatoren an einer Demonstration gegen die Nationalsozialisten teilgenommen.

Esser versuchte sich nun ins NS-System zu integrieren, um so sich und seine Familie vor den Nachstellungen der Gestapo zu schützen.[2] Die OMGUS-Akten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv belegen, dass er zwischen 1936 und 1939 der Deutschen Arbeitsfront (DAF) angehörte und darüber hinaus der NS-Volkswohlfahrt (NSV) und dem NS-Rechtswahrerbund (NSRB), der Berufsorganisation der Juristen in NS-Deutschland. Letzteres mag mit seiner Tätigkeit als „Buchsachverständiger und Helfer in Steuersachen“ zusammenhängen. Zwischen 1937 und 1939 war Esser zudem Blockwart und Zugführer des Reichsluftschutzbundes. Damit war er zwar formal, aber nicht schwer belastet. Die über neunmonatige KZ-Haft und wohl auch die Sorge um seine Familie dürften dazu beigetragen haben, dass Esser sich dem Regime anpasste und Kompromisse einging. Zunächst hatte er damit Erfolg. Das NS-Regime erstellte wegen seines Antrags auf Aufnahme in den NSRB ein politisches Gutachten über ihn: „Er liest jetzt den V[ölkischen]B[eobachter], das ‚Schwarze Korps‘, gibt bei Sammlungen und benimmt sich nicht auffallend.“ Negativ wurde ihm ausgelegt, dass er NSDAP-Versammlungen nicht besuchen würde. Trotz des Gutachtens hatte das Regime ihn weiter im Visier. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20.7.1944 musste er für vier Wochen erneut ins KZ Dachau, wo er schwer misshandelt wurde.

Sofort nach Kriegsende lief Esser mit seinem Sohn Karl Heinz (1930–1995) aus seinem damaligen Wohnort Hög bei Pfaffenhofen die rund 65 Kilometer lange Strecke nach Regensburg, wo er zunächst bei Verwandten unterkam. Dort schloss er sich dem SPD-Ortsverband an. Im Herbst 1945 wendete sich für ihn alles zum Guten: Am 23.10.1945 wurde ihm im Alten Rathaus in Regensburg die Presselizenz für die „Mittelbayerische Zeitung“ übergeben. Die Verlagsgeschäfte führte er bis 1961, ehe er sie an seinen Sohn Karl Heinz Esser übergab.

Michael Hellstern

[1] Seine folgenden Mitgliedschaften in NS-Organisationen wurden bislang nur in der unveröffentlichten Magisterarbeit von Michael Bledl erwähnt, der diese allerdings nicht konkret nachweisen kann, da er sich nur auf Essers Lizenzträger-Fragebogen stützt, den Bledl vom Verlag der MZ erhielt. Bledl, Entstehung. S. 29. Hilmer gibt lediglich an, dass Esser „über eine Widerstandsgruppe Kontakt zur SPD“ hielt, aber nur Auslandsnachrichten weitergab, vor allem an Bekannte. Hilmer, Verwaltung. S. 122 f.

[2] Bei seiner Ankunft in Dachau gab es Scheinhinrichtungen von Häftlingen. Der berüchtigte KZ-Aufseher Hans Steinbrenner misshandelte Häftlinge bei deren Ankunft und ermordete einige von ihnen. Esser sagte später vor Gericht im August 1948 gegen Steinbrenner aus. Vgl. den Bericht über die Inhaftierung von 27 Regensburgern in Dachau in: „Zur freundlichen Erinnerung“, MZ vom 24.9.1946; Auszug aus der Häftlingsdatenbank der KZ-Gedenkstätte Dachau zu Karl Friedrich Esser vom 29.10.2020; „Regensburger in Dachau“, MZ vom 8.3.1946 und die Namensliste des Arbeitskommandos Ampermoching unter KZ-Gedenkstätte Dachau DaA ITS 139/032; Halter, Regensburg. S. 100; „Vergessenes Mahnmal“, Münchner Merkur vom 3.12.2014.

 

Zur Gast in der Artothek: Simone Hamann SUPERPOSITION

Am Sonntag, den 22. Juni 2025 um 15.00 Uhr wird die Künstlerin, deren Arbeiten auch in der Artothek Niederbayern vertreten sind, im Gespräch mit Anette Röhr, Artothek Niederbayern, und dem Galeristen Robère Scholz, Galerie r8m Köln, Einblicke in die Entstehung ihrer Werke, die künstlerischen Prozesse und deren Hintergründe geben sowie ihren neuen Katalog in der Artothek Niederbayern vorstellen. Parallel werden aktuelle Arbeiten von Simone Hamann in der Artothek gezeigt. Alle Interessierten sind herzlich willkommen, eine Anmeldung ist nicht erforderlich, der Eintritt ist frei.

Simone Hamann wurde 1974 in München geboren und wuchs im Landkreis Straubing Bogen auf. Sie studierte Malerei, Philosophie und Kunst an der Accademia di Belle Arti in Rom, der LMU München und der Universität Passau. Derzeit lebt und arbeitet sie im Bayerischen Wald. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch eine kraftvolle Farbigkeit und den spielerischen Umgang mit dem Material aus. Die entstehenden Formen materialisieren Ideen aus der Gedankenwelt der Künstlerin. Sie versieht ihre Arbeiten mit Titeln, die den Betrachter in das Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Assoziation einbinden und dabei stets größtmögliche Gedankenfreiheit und Deutungsoffenheit zulassen. Serien werden so angelegt, dass sie ein Gefühl von Unendlichkeit vermitteln. Die Malerin spielt mit der Idee des offenen Kunstwerkes. Ihre Bilder werden zu Zeichen dieser angedeuteten Unendlichkeit, zu Momentaufnahmen eines fortlaufenden Prozesses.

Die Artothek befindet sich auf dem Gelände des Bezirksklinikum Mainkofen: Mainkofen – Haus D2, 94469 Deggendorf

Weitere Informationen: www.artothek-niederbayern.de

 

KULTURmobil 2025

Die diesjährige Tournee startet mit der Premiere am 7. Juni in Bodenmais. Bis zum 30. August gibt das Open-Air-Theater des Bezirks Niederbayern insgesamt 30 Gastspiele. Seit 28 Jahren begeistert das KULTURmobil Jung und Alt mit humorvollen, unterhaltsamen und anspruchsvollen Stücken – und das bei freiem Eintritt!

Nachmittags um 17 Uhr steht „Don Quijote“ nach Miguel de Cervantes auf dem Programm. Don Quijote ist wohl der berühmteste Ritter aller Zeiten, der eigentlich gar kein echter Ritter ist. Don Alonso Quesada liest mit Begeisterung Ritterromane. Beflügelt hiervon macht er sich als Don Quijote auf, seinen Helden nachzueifern. Doch Phantasie und Wirklichkeit geraten ihm gehörig durcheinander. Während er in Windmühlenflügeln einen vielarmigen Riesen sieht, den es zu bekämpfen gilt, träumt sein Knappe Sancho Pansa von einem saftigen Braten und einem Schläfchen im Schatten. In Don Quijotes kreativem Irrwitz und Sancho Pansas heiterem Realismus treffen gegensätzliche Sichtweisen auf die Welt berührend und urkomisch aufeinander. Regie führt Susanne Schemschies. Sie arbeitet seit vielen Jahren im Kulturbereich. Ihre Aufgabengebiete spannen einen Bogen von der Regie über Projektleitung bis hin zur Dramaturgie. Ihr künstlerischer Weg führte sie unter anderem nach Regensburg, Nürnberg, Berlin und Wien. So war sie beispielsweise am Theater des Westens Berlin, am Theater St. Gallen (CH) und bei den Vereinigten Bühnen Wien tätig. Seit Beginn der Spielzeit 2014/2015 ist Susanne Schemschies Leiterin des Jungen Gärtnerplatztheaters am Staatstheater am Gärtnerplatz. Sie zeichnete für zahlreiche Inszenierungen verantwortlich, dazu zählen unter anderem Benjamin Brittens „Der kleine Schornsteinfeger“, Leonard Evers‘ „Gold!“, „CSI Opera“, „Der Baum der Erinnerung“ sowie die Konzerte für junges Publikum „Das kleine ich-bin-ich“ und „Peter und der Wolf“.

Abends um 20 Uhr wird Der eingebildete Kranke von Molière gegeben.Im Mittelpunkt steht der feine Privatier Anton von Hagenstolz, ein leidenschaftlicher Hypochonder, der seine Umwelt mit seinen läppischen Wehwehchen reizt. Am meisten sind Antons zweite Ehefrau Belinde, sein Töchterchen Angelika und die entzückende Perle des Hauses, Kammerzofe Antoinette, betroffen. Jede Menge Verwicklungen stehen ins Haus. Denn Herr von Hagenstolz möchte sein Kind mit dem Medicus Dr. Theodor von Dünkelstein verheiraten, doch Angelika liebt heimlich den charmanten Clemens Hutmacher, der so ganz den väterlichen Interessen entgegensteht. Damit nicht genug: Auch die hingebungsvolle Ehefrau Belinde zeigt amouröse Absichten, die nicht mit den ehelichen übereinstimmen. Regie führt Achim Bieler. Er absolvierte 2001 sein Studium für Regie im Bereich Theater und Film an der Athanor Akademie für Darstellende Kunst. Neben seiner anschließenden Lehrtätigkeit arbeitete er für die Burgfestspiele Jagsthausen, UNSESCO-International Acting Workshops und das Shakespeare Festival Bukarest. Er verwirklichte Produktionen für das Europäische Klassikfestival Ruhr und Zeit-für-Neue-Musik, drehte eine Reihe von Kurzfilmen und Musik- sowie Animationsvideos. Regelmäßig kehrte er für Inszenierungen an sein Heimattheater Studiobühne Bayreuth zurück. 2014 wurde er Hausregisseur am DAS DA Theater in Aachen und übernahm eine leitende Funktion an dem angegliederten Theaterpädagogischen Zentrum, bevor er in 2020 als Stellvertretender Akademieleiter und Dozent für Regie an die Athanor Akademie zurückkehrte.

Fotos: Sabine Bäter

Der Holocaust vor der Haustüre: Das KZ-Außenlager Landshut

Als der Holocaustüberlebende William Wermuth im deutschen Konsulat in Boston/USA am 9. Mai 1969 im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen den SS-Unterscharführer Henschel wegen Tötungen von Häftlingen im KZ-Außenlager Landshut aussagte, erklärte er eidesstattlich:

Im Januar 1945 war ich im Außenlager Landshut des Lagers Dachau. Henschel rief sich Häftling Walter Bär wegen eines geringfügigen Vergehens innerhalb des Lagers. Er ließ sich ein fingerdickes, etwa 50 cm langes Kabel bringen und schlug damit im Waschraum auf Bär sehr heftig ein. Bär war hinterher nicht mehr in der Lage, auf seinen Beinen zu stehen. Er kroch aus dem Waschraum heraus. Das Ganze kann 20 bis 25 Minuten gedauert haben. Bär war Häftling. Es war etwa 18:00 Uhr nach dem Appell. Wir blieben auf dem Appellplatz und warteten, bis Bär wieder herauskam. Wir schleppten ihn dann zur Baracke zurück. Er war in sehr schlechtem gesundheitlichem Zustand und blutete. Er war kaum mehr fähig zu sprechen. Als wir zwei bis drei Wochen später nach Dachau verlegt wurden – das war im Februar – war Bär in völlig verhungertem und verletztem Zustand. Dennoch trat er die letzten Wochen in Landshut beim Appell mit an, um nicht als krank aufzufallen. In Dachau lag er nur auf seiner Pritsche. Er hat vielleicht noch vier Wochen nach dem Vorfall gelebt. Er starb in meinen Armen. Er war zu diesem Zeitpunkt bei halbem Bewusstsein. Ich bin überzeugt, daß er an inneren Blutungen gestorben ist.“

Walter Bär, ein zwanzigjähriger Kölner Jude zählt nicht zu den 83 Toten des KZ-Außenlagers Landshut, da er nach seiner Überstellung in das Stammlager Dachau am 22. Februar 1945 dort verstarb. Bis zu seinem Tod erlebte Bär in den Außenlagern Kaufering III und Landshut ein furchtbares Martyrium. Im KZ-Außenlager Landshut wurden von Mitte Dezember 1944 bis zum 5./6. Februar 1945 500 jüdische Häftlinge aus allen von den Nazis besetzten Ländern Europas festgehalten. Die große Mehrzahl der Häftlinge wurden aus ihren Heimatländern in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort dann zum Arbeitseinsatz selektiert. Von Auschwitz kamen sie dann zur Zwangsarbeit in das Dachauer Außenlager Kaufering III. Mitte Dezember 1944 überstellte die SS von dort dann 500 Häftlinge nach Landshut in ein neu errichtetes KZ-Außenlager. In Landshut mussten die Häftlinge für die Organisation Todt ein Nachschublager für die Wehrmacht ausbauen. Das KZ-Außenlager Landshut brachte der Bevölkerung den Holocaust vor die Haustüre. Gemäß dem Konzept der „Vernichtung durch Arbeit“ wurde die Arbeitskraft der jüdischen Häftlinge ausgebeutet und dabei der Tod der Häftlinge bewusst in Kauf genommen.

In der kurzen Zeit seines Bestehens kamen 83 der 500 Häftlinge in Landshut ums Leben. Sie starben an Hunger, Kälte, Infektionskrankheiten oder wurden von den ca. 15 bis 20 SS-Männern, die als Wachmannschaft fungierten, erschlagen. Laut übereinstimmenden Augenzeugenberichten muss ein SS-Unterschar- und Rapportführer mit dem Familiennamen „Henschel“ ein besonders grausamer Sadist gewesen sein. Henschel machte den Häftlingen das Leben schwer: Er misshandelte sie. Einige erschlug er mit dem Gewehrkolben oder einem dicken Kabel. Zwar ermittelte gegen Henschel in den Jahren 1969 bis 1975 die Staatsanwaltschaft, das Ermittlungsverfahren wurde jedoch eingestellt, da „Henschel“ nie ausfindig gemacht werden konnte. Wie er mit Vornamen hieß, woher er kam und was aus ihm wurde, ist bis heute unbekannt. Bekannt sind mittlerweile jedoch die 83 Namen der jüdischen Opfer. An der Stelle, an der seinerzeit die Leichen an der Mauer des damaligen Achdorfer Friedhofs verscharrt wurden, erinnern seit September 2016 vom Künstler Mario Schosser gestaltete Erinnerungstafeln an die Opfer.

Die vom Künstler Mario Schoßer gestalteten Gedenktafeln mit dem Namen der KZ-Opfer an der Mauer der Achdorfer Friedhofes. An dieser Stelle wurden seinerzeit die Opfer verscharrt. Im Jahr 1959 wurden die Toten exhumiert und auf den Friedhof der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg umgebettet.

Die Installation der Tafeln wurden von einem P-Seminar unter der Leitung von Heidi Fischer vom Hans-Leinberger-Gymnasium initiiert. Durch den Vergleich von Luftbildern und dem wenigen vom Lager erhaltenem Fotomaterial konnte der Kunsthistoriker Alexander Langkals ein genaues Modell im Maßstab von 1:100 erstellen. Das Modell wurde bei einem Vortrag über das KZ-Außenlager Landshut am 9. Februar 2025 im KOENIGMuseum erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

Mario Tamme

Literatur:

BA Ludwigsburg B 162/17661, Bl. 54.
Das KZ-Außenlager Landshut – zur Geschichte des Lagers: Es herrschten Gewalt, Hunger und Tod, in:Landshut 1939-1945. Ein Zeitspiegel in Bild und Wort, Landshut 2020, S. 256-285.
Alexander Langkals: Entwurf eines Erinnerungsmals für das ehemalige KZ-Außenlager in Landshut, Landshut 2021.

Zuserl – vom Reiz der Rhythmik

Auf der Suche nach regionalen musikalischen Besonderheiten begegnet uns immer wieder auch der Zwiefache, ein takt- bzw. tempowechselnder Tanz, der es 2016 sogar ins Bundesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCO-Kommission geschafft hat. Die Musikgattung gilt als identitätsstiftende Kulturform, die in großer Vielfalt erscheint. Die Unregelmäßigkeit des Taktwechsels weckt das Interesse, die rhythmische Nuss, die hinter jedem einzelnen Zwiefachen steckt, zu knacken. Man möchte ergründen, in welcher Reihenfolge sich jeweils Dreiviertel- (Walzer) und Zweivierteltakt (Dreher) aneinanderreihen. Was für ein Vergnügen, wenn man die musikalischen Schwerpunkte erkennt und die reizvollen Melodien mühelos singt, musiziert oder tanzt!

Eine der bekanntesten Zwiefachenmelodien ist das Suserl oder Zuserl. Im Wörterbuch des bayerischen Sprachforschers Johann Andreas Schmeller aus dem 19. Jahrhundert wird Zusel als „Schimpfbenennung einer Weibsperson; Concubina“ beschrieben. Darüber hinaus gibt es kindersprachlich das Wort Zuserl oder Zus für Schweinchen. Im Volkskulturarchiv des Bezirks Niederbayern (VABN) finden sich verschiedene Notationen des Zwiefachen, die sich geringfügig unterscheiden – so, wie man sich in der Praxis die Melodie eben zurechtgespielt hatte:

Handschrift aus Vohburg, notiert von Hans Mathes zwischen 1968 und 1978, VABN N 3.

Handschrift aus dem Besitz von Josef Müller, Abensberg, notiert vor 1905 in alter Zwiefachennotation: eine Achtelnote im Drehertakt entspricht einer Viertelnote im Walzertakt, VABN N 5.

Handschrift aus Bernried b. Metten, notiert von Alois Prebeck 1948, notiert in alter Zwiefachennotation, VABN N 338/8.

Bis in die 1970er Jahre fand der Zwiefache unter dem Titel „Zuserl“ Verbreitung – so lange, bis der Volkssänger Josef Eberwein (1895-1981), Gründer der bekannten Dellnhauser Musikanten, 1972 unter dem Titel „’s Suserl“ zwei Strophen veröffentlichte, die vom Tanzen mit einem Mädchen namens Suserl handelten. Damit wurde die despektierliche Bedeutung des Begriffs Zuserl elegant umgangen. Mit dem neuen Text erlangte der Zwiefache große Bekanntheit und findet sich bis heute im Repertoire vieler Volksmusikgruppen. Eberweins Text findet sich hier: https://www.stammtischmusik.at/noten/suserl.htm

Weitere Verbreitung erlangte die Melodie 1995 als „Mäkki-Lied“ in einer Neuvertextung von Otto Göttler: Mit den Anfangszeilen „Hunger kriag i glei, wann i an Mac Donald’s siech, wird’s mir im Magn drin warm, ziagt’s ma‘n glei zsamm“ widmete sich Göttlers musikkabarettistische Gruppe Bairisch Diatonischer Jodelwahnsinn satirisch-frech dem Thema Fastfood. Das Stück wurde einer der größten Erfolge der bayernweit bekannten Gruppe. Hier kann man es anhören: https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=8hYKORj5s2o&t=0s

Handschrift aus dem Besitz von Alois Stadler, Nöham, notiert 1920 in alter Zwiefachennotation, VABN N 323/162.

Im diesem Beispiel aus Nöham begegnet uns eine weitere Variante des Zwiefachen – diesmal nicht mit anderem Text, sondern mit einer völlig anderen Melodie. Deren erster Teil ist eigentlich als „Zimmermichl“, „Zipfe Miche“ oder „Sommerer Michl“ bekannt. Vergleicht man alte Notenhandschriften, zeigt sich immer wieder einmal: Ein und dieselbe Zwiefachenmelodie kann unter verschiedenen Namen überliefert sein, ebenso wie uns unter einem Namen ganz unterschiedliche Melodien begegnen. Dies ist bei den vielfältigen Verbreitungswegen und überwiegend mündlicher Überlieferung von Volksmusik durchaus möglich. Es gibt hier keine „richtige“ oder „falsche“ Version. Die Varianten und Unterschiede können vielmehr als Beweis dessen gedeutet werden, dass die Melodien rege in Gebrauch waren, vielfach weitergegeben wurden und unterschiedlich zurechtgespielt wurden. Die Zwiefachen mischen also nicht nur Taktarten bunt durcheinander, sondern hin und wieder auch ihre Namen und Melodien …

Veronika Keglmaier

„Ei, ei, ei … Verpoorten“ Eierlikör aus Straubing

Verpoorten-Lastwagen, um 1950 (Stadtarchiv Straubing)

Niederländische Seefahrer hatten im südamerikanischen Amazonasgebiet einen wohlschmeckenden Likör der indianischen Ureinwohner, hergestellt aus Avocadofrüchten, kennengelernt. Versuche, den Avocado-Strauch im 17. Jahrhundert auch in Europa heimisch zu machen, scheiterten, aber findige Flamen kamen auf einen idealen Ersatz: Sie mischten Eidotter mit Branntwein, Zucker und anderen Gewürzen zu einer genialen Komposition, der Eierlikör „Advocaat“ war erfunden.

Die Anfänge der Weltfirma Verpoorten liegen im deutschen Städtchen Heinsberg bei Aachen, wo der flämische Kaufmann und Schnapsbrenner Eugen Verpoorten 1876 eine „Liqueur-Fabrik“ gründete. Sein Enkel Wilhelm heiratete 1920 die Berlinerin Elly Matishock und errichtete in Kreuzberg die „Verpoorten & Waschkin Fabrik für Tafelliköre und Holländische Spezialitäten nach Originalrezepten“. Von Berlin aus versorgte Willi Verpoorten nun ganz Deutschland per Pferdewagen und Eisenbahn mit Schnäpsen, Kräuterlikören und natürlich mit Advocaat.

Straubinger Belegschaft der Fa. Verpoorten, um 1938 (rechts vorne stehend: Elly Verpoorten) (Stadtarchiv Straubing)

Straubinger Belegschaft der Fa. Verpoorten, um 1938 (rechts vorne stehend: Elly Verpoorten) (Stadtarchiv Straubing)

In den 1930er Jahren wurde es immer schwieriger im Gebiet um die Hauptstadt Berlin Eier zu bekommen, da sie der „gesunden Volksernährung“ vorbehalten waren. Niederbayern hingegen wurde vom Reichswirtschaftsministerium zum Überschussgebiet für frische Eier deklariert. So kam am 1. März 1936 Elly Verpoorten in Straubing an, um hier eine neue Produktionsstätte für Eierlikör aufzubauen. Die neue Eierlikörfabrik wurde in der Heerstraße, im ehemaligen Maschinenhaus der Brauerei Setz, eingerichtet. Als die Berliner Fabrik zerbombt wurde, zog auch Willy Verpoorten im Dezember 1944 nach Straubing. Trotz der Kriegswirren lief die Eierlikörproduktion in Straubing weiter; man fabrizierte das beliebte Stärkungsmittel zum Beispiel für das Deutsche Rote Kreuz. Am 28. April 1945 marschierten die Amerikaner in Straubing ein. In den folgenden drei Tagen war Straubing für die Plünderung freigegeben. Auch die Verpoortens wurden nicht verschont, amerikanische Soldaten, befreite Fremdarbeiter und auch die Bewohner der Nachbarschaft halfen eifrig mit, die Bestände eimerweise wegzuschaffen. Zeitzeugen berichten vom „knöchltiefen“ Eierlikörsee im Setzkeller. Als Sohn Viktor Verpoorten, entlassen aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft, 1945 ebenfalls nach Straubing kam, renovierte und erweiterte man den Betrieb. Bis zur Währungsreform produzierte man Essig- und Senfgurken und handelte mit heißen und kalten Getränken. Im Sommer 1948 konzentrierte man sich als „Fa. Destillerie Verpoorten OHG. Straubing, Heerstraße 2“ dann wieder auf die Eierlikörherstellung. Schwierig war es nun aber, ausreichend Eier zu bekommen: Niederbayern war kein „Überschussgebiet für Eier“ mehr, der große Flüchtlingsstrom musste versorgt werden, zudem verschoben die Einheimischen ihre Ware lieber nach München, wo die „naturfrischen Hühnereier aus dem Gäuboden“ ein lukratives Geschäft waren. So wurden nun mit dem „Verpoorten-Lastwagen“ unermüdlich Eier aus Holland, Belgien und Norddeutschland geholt.

25 bis 30 Leute, vor allem Frauen, arbeiteten für die Verpoortens. Waren vor dem Krieg unter Aufsicht der „Chefin“ die Eier per Hand aufgeschlagen worden, gab es nun eine halbautomatische „Eierköpfmaschine“. Während sich das Eigelb mit Branntwein und geheimen Zutaten zum berühmten Advocaat wandelte, wurde das Eiweiß in Kübeln aufgefangen und nach Nürnberg in die Lebkuchenfabriken oder an einheimische Bäckereien verkauft. Die Eierschalen holten sich Straubinger Bauern und Bürger, von denen vor allem in der Kriegs- und Nachkriegszeit viele eigenes Federvieh hielten, als Hühnerfutter.

1953 verlegten die Verpoortens ihre Firma nach Bonn. Die Verpoortens wollten zwar lieber in Straubing bleiben, das ihnen zur neuen Heimat geworden war. Versuche, in Straubing ein geeignetes Grundstück für ein neues großes Werk zu finden, waren aber gescheitert. Die junge Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland hingegen warb um Industrieansiedler, war zudem für die Verpoortens auch ein strategisch günstiger Standort: Fracht- und Vertriebswege wurden kürzer; der Hauptlieferant für Glasflaschen saß im Ruhrgebiet.
Elly Verpoorten, die tatkräftige und angesehene „Gründerin“ der Straubinger Eierlikörfabrik, starb 1968. Ihr Sohn Viktor Verpoorten erinnerte sich an die Straubinger Epoche als eine „sehr glückliche Zeit“: „Weil wir so viele, viele Jahre dort als Unternehmer tätig waren, hörte ich einmal von einem unserer Freunde den schönen Satz zu meiner Mutter sagen: ‘Elly, du bist a Preussin mit mildernden Umständen, weil’st scho so lang in Straubing bist und weil’st katholisch bist.’“

Eierlikörproduktion in Straubing mit Maria Sturm (Vorarbeiterin) und Emmy Kuglmeier, um 1950 (Stadtarchiv Straubing)

Eierlikörproduktion in Straubing mit Maria Sturm (Vorarbeiterin) und Emmy Kuglmeier, um 1950 (Stadtarchiv Straubing)

Eierlikör wurde wie Nierentische und Tütenlampen zum Symbol der Wirtschaftswunderzeit. Und die Firma Verpoorten entwickelte sich mit dem von Viktor erfundenen Werbeslogan „Ei. Ei, ei – Verpoorten“ zum weltgrößten Hersteller von Eierlikör. Sie ist nach wie vor – mittlerweile in der fünften Generation – ein Familienunternehmen. Der Eierlikör wird hierbei übrigens nach dem seit 1876 unveränderten Geheimrezept produziert.

 

Dr. Dorit-Maria Krenn