Hört ihr Leut‘ und lasst euch sagen, eine Ritterburg soll im Zwieseler Land entstehen! Der Nachbau einer Burg aus dem 11. Jahrhundert ist die grandiose Idee eines Planers, der damit ein deutschlandweit einzigartiges Projekt in den Wald stellen möchte. Eine mittelalterliche Burg mit Schenke, Restaurant, Rittersaal und Gewölbekeller. Die „Burg Rothberg“ soll auf dem Kellerberg bei Lindberg thronen. Das wird grandios! Gigantisch! Vor unseren Augen entsteht die großartigste Burg, die je gebaut wurde! Die „neue mittelalterliche“ Burg soll mit Naturstein und Holz verblendet werden, damit sie „echt alt“ aussieht, ein „alternative castle“. Ein Handwerkerdorf und eine Eventarena werden mittelalterliches Lebensgefühl vermitteln. Der Natur- und Erlebnispark mit angelegten Wanderwegen auf einem Areal von rund 80 000 Quadratmetern – eine Größe von rund elf Fußballfeldern – soll Natur- und Entschleunigungstourismus vereinen. Hier werden „alternative facts“ in die Tat umgesetzt.

Im Zwieseler Land regt sich heftiger Widerstand. Die Bewohner der anliegenden Rotkotsiedlung fürchten Verkehrsbelästigung und Umweltzerstörung. Zudem gibt es auf dem Kellerberg ein Landschaftsschutzgebiet und ein ehemaliges Bergwerk, in dem seltene Fledermäuse hausen. Derart kleine Tiere haben schon ganz andere Planungen verhindert.

Architektur ist Ausdruck von Kultur, ist Heimat. Wo man nicht mehr unterscheidet zwischen „echt alt“ und „auf alt gemacht“, geht Identität verloren. Gebäude bestimmen den Ortscharakter, neue Gebäude verändern die Landschaft. Wer mit offenen Augen durch die Gegend wandert, findet alte Höfe und Häuser, Burgen und Dörfer mit mittelalterlicher Substanz. Der Bayerische Wald braucht keine Kulissenarchitektur, er hat – immer noch – Bauten vorzuweisen, die von der Heimat und ihrer Geschichte Zeugnis ablegen. Mit Vorstellungskraft, Mut und Phantasie lassen sich diese echten alten Häuser wieder bewohnbar machen und bieten ein unvergleichliches Wohngefühl. Ihre Patina ist unersetzlich, sie haben eine Seele und vermitteln Heimat. Mittlerweile gibt es Vorreiter.  Einige coole Bauherren haben sich in das Abenteuer der Sanierung gestürzt und es nicht bereut. Diese gelungenen Beispiele sind beeindruckend und zur Nachahmung empfohlen.

Der „Waidler“ darf seinen eigenen Werten gerne mehr vertrauen. Der Nationalpark Bayerischer Wald mit echter Wildnis liegt vor der Haustür, sein Potential ist längst noch nicht ausgeschöpft. Natur, Tiere, Wildnis bieten Erholung und Entschleunigung pur. Wandern, Radeln, Reiten, Skifahren und eine gute Gastronomie, das ist sanfter Tourismus, der Entspannung schenkt. Hier gibt’s noch viel zu tun. Mittelalterfans treffen sich im Bayerischen Wald schon seit Jahren zu Gelagen, sie campen in Zelten, baden im Freien, tragen Kämpfe aus und kochen am offenen Feuer. Sie brauchen keine schicke Burg, sie wollen keine „alternative culture“, sie wollen Erlebnis hautnah, echt und ohne Komfort. Eine nachgebaute Ritterburg kann das nie bieten.

Ines Kohl